Vor mehr als 150 Jahren – darum wurde der Alpenverein gegründet
Wer ein neues Hobby für sich entdeckt, der checkt erstmal online, was oder wen er zu dem Thema findet. Man durchsucht Instagram nach Hashtags, schaut, welche Gruppen es auf Facebook gibt und klickt sich durch sämtliche Foren und alle Plattformen, in der Hoffnung, Tipps zu bekommen oder Menschen zu finden, mit denen man sich zusammen tun und von denen man lernen kann. Vor 150 Jahren gab es all das noch nicht, denn statt Highspeed-Datenautobahnen vernetzten Bücher, Briefe und – noch relativ neu – Eisenbahnschienen die Welt.
Und doch waren die Gedanken, die hinter der Gründung des Alpenvereins standen, dieselben, die heute Communitys on- und offline zusammenbringen – egal, ob ganz pragmatisch oder emotional: Lasst uns zusammen tun, unser Wissen und unsere Möglichkeiten bündeln, Synergien nutzen! Lasst uns unsere Leidenschaft teilen!
Der Alpenverein als inspirierendes Netzwerk
Heute würde der DAV also vielleicht „Mountain Community“ oder „Alps Crew“ heißen. Was Vergangenheit und Gegenwart außer dem Namen unterscheidet, sind die Ziele des Netzwerks: Anders als bei den meisten heutigen Berg-Communitys stand damals nicht ausschließlich das Berggehen zum Selbstzweck im Interesse der Gründer. Vielmehr ging es darum, durch wissenschaftliche und praktische Erschließung der Alpen die Grundlagen für unseren heutigen Spaß am Berg zu schaffen.
Genauer meint das: Anstiege auf die oft noch jungfräulichen Gipfel zu finden, regelmäßig Schriften herauszugeben, zu kartieren und eine Infrastruktur zu errichten, um den Tourismus in den Alpen überhaupt erst zu ermöglichen. Dabei ging es den Gründern – und das hat der Alpenverein wiederum mit den meisten heutigen Communitys gemeinsam – darum, einen breiten und nicht exklusiven Kreis Alpeninteressierter anzusprechen:
»Der Grundgedanke war, der Deutsche Alpenverein solle alle Verehrer der erhabenen Alpenwelt in sich vereinigen, mögen sie die Deutschen Alpen selbst bewohnen, möge es ihnen auch nur zeitweilig vergönnt sein, diese zu besuchen, – mag sie ernste Forschung in die Thäler und Schluchten, über die grünen Höhen bis hinan zur Grenze organischen Lebens treiben, – mögen sie, einer Fachwissenschaft fernstehend, nur offenen Sinn mitbringen für die unvergesslichen Eindrücke der Hochgebirgsnatur, deren läuternde und verjüngende Kraft erkannt zu haben zu den schönsten und edelsten Errungenschaften unseres Jahrhunderts gezählt werden muss. Für sie alle soll der Deutsche Alpenverein das gemeinsame Band sein, er soll durch Wort und Schrift die Resultate der Forschung allgemein verbreiten, jene Eindrücke bleibend fixieren, zu neuer Thätigkeit anregen. Er erhebt keine anderen Ansprüche an seine Mitglieder, er verlangt keine besonderen Leistungen, nur reges Interesse für die Alpenwelt; er ist kein Verein von Bergsteigern. Überall soll die Liebe zu den Alpen geweckt und gepflegt werden, überall, wo sich Alpenfreunde finden, soll ein Mittelpunkt für diese geschaffen werden.« – Theodor Trautwein, Alpenvereinsgründer (Zeitschrift des DAV, 1870).
Die Berge im Trend der Zeit
Die Gründung des Alpenvereins fällt in eine Zeit, in der die Berge ein aufkommender Trend sind. Der Innsbrucker Bergsteiger und Lehrer Ludwig Purtscheller schreibt von der „Frühlingszeit des Alpinismus“. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes erlaubt schnellere Reisen ins Gebirge. „Fortschritt“ ist das Schlagwort der Zeit: technisch, materiell und gesellschaftlich. Erste Formen von Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit beginnen sich zu etablieren, und das boomende Vereinswesen wird in der Folge zu einem Instrument, um jahrhundertealte, gesellschaftliche Strukturen abzulösen. Der Verein wird im 19. Jahrhundert zur wichtigsten Form bürgerlicher Selbstorganisation und eine Keimzelle von Politik, Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft. Allein in München steigt die Anzahl der Vereine zwischen 1870 und 1910 von 210 auf 4.500 an.
Die fünf Gründer und ihr Zoff mit dem ÖAV
Als sich am 9. Mai 1869 im Gasthof „Zur Blauen Traube“ in München 36 Männer treffen, um die Sektion München ins Leben und zur Gründung weiterer Sektionen aufzurufen, ist der Großteil der Arbeit auf dem Weg zum Deutschen Alpenverein bereits erledigt. Verantwortlich dafür ist ein Netzwerk an persönlichen Verbindungen und Freundschaften, vor allem aber sind es fünf in der frühen Bergsteigerszene hinlänglich bekannte Männer: Franz Senn, Johann Stüdl, Theodor Trautwein, Karl Hofmann und Paul Grohmann.
Der österreichische Pfarrer Franz Senn hatte das Dorf Vent im hinteren Ötztal zu einem Bergsteigertreffpunkt gemacht. Eine seiner Maßnahmen war der Bau von Wegen aus Vent hinaus übers Hochjoch ins Schnalstal und talauswärts von Vent bis Zwieselstein, die nicht nur den Touristen, sondern auch den Einheimischen, die mit regionalem Handel ihr Geld verdienten, das Leben erleichterten.
Auch der Prager Kaufmann Johann Stüdl ist bereits praktisch tätig geworden und hat am Anstieg zum Großglockner von Kals aus eine Hütte als Stützpunkt für die Glocknerbesteigung errichtet. In Kals gründete er auch den ersten Bergführerverein der Ostalpen, der Beginn des organisierten Führerwesens in den Ostalpen.
Der Buchhändler Theodor Trautwein aus München hat wenige Jahre zuvor seinen ersten Reiseführer herausgegeben; seine Führer für Südbayern und Nordtirol werden später zu Standardwerken.
Das Küken im Quintett war der Münchner Student Karl Hofmann, doch verbindet ihn mit Stüdl bereits eine Freundschaft: Die beiden pflegten einen regen Briefkontakt zu alpinen Fragen, seit sich Hofmann auf der Suche nach Informationen über die Glocknergruppe an den erfahrenen Stüdl gewandt hatte.
Paul Grohmann aus Wien, bekannt für zahlreiche Erstbesteigungen in den Dolomiten, Karnischen Alpen und Zillertaler Alpen, sagt das Treffen in München kurzfristig per Telegramm ab. Grohmann ist einer der Mitbegründer des Österreichischen Alpenvereins und zu dieser Zeit einer seiner größten Kritiker.
Damit ist Grohmann nicht allein: Dem Treffen in der Blauen Traube ging eine breite Unzufriedenheit mit den Entwicklungen im Österreichischen Alpenverein voraus.
In der Kritik stand vor allem, dass der ÖAV zentral in Wien organisiert war und seine Tätigkeit weitestgehend auf wissenschaftliche Vorträge und Publikationen beschränkte. Die jüngeren Mitglieder in der Leitung des ÖAV plädierten für eine Organisation des Vereins in einzelnen Sektionen, die Treffen, Vorträge und Expeditionen selbständig veranstalten, das Führerwesen organisieren und sich für die Weiterentwicklung von Unterkunfts- und Transportmitteln engagieren sollten.
Doch die Reformvorschläge wurden vom Vorstand abgeschmettert, Versöhnungsgespräche blieben ergebnislos, so dass die verärgerten Mitglieder nichts sahen, was der Gründung eines ihrer Meinung nach besseren Konkurrenzvereins im Wege stand. Mehrere Briefwechsel und Treffen, unter anderem zwischen Senn, Stüdl, Hofmann und Grohmann machten es schließlich möglich, dass am 9. Mai 1869 in der Blauen Traube die provisorischen Statuten des neuen Vereins, die Gründung der Sektion München sowie zwei Aufrufe zur Gründung weiterer Sektionen verabschiedet werden konnten.
24 Sektionen zum ersten Geburtstag
Den Auftakt bei der Gründung weiterer Sektionen macht noch im Mai das alpenferne Leipzig, wo sich schon ein paar Jahre zuvor eine Gruppe „zum Austausch von Reiseerfahrungen im Gebiete der gesammten Alpen“ zusammengefunden hatte. Es folgen Wien, Lienz und Augsburg. Nach einem zweiten Aufruf, der Ende Juni 1869 veröffentlicht wird, ziehen 19 weitere nach. Zum ersten Geburtstag des Vereins gibt es bereits 24 Sektionen.
ÖAV und DAV verhandeln ab 1871 über einen Zusammenschluss. Zwei Jahre später dann erfolgt der Beitritt, der ÖAV und Wien bilden die neue Sektion Austria. Ab 1874 nennt sich der Alpenverein schließlich „Deutscher und Oesterreichischer Alpenverein“ (DuOeAV).
Schon der zweite Geschäftsbericht des Deutschen Alpenvereins vom 9. September 1871 zeigt, dass das Konzept der Gründer und ihre Idee der Organisation in Sektionen, vollends aufgeht: Die Johannishütte in der Venedigergruppe ist restauriert worden, die Unterkunftshütte am Lünersee, später Douglass-Hütte, eröffnet, Kaindl- und Knorr-Hütte sind im Entstehen, mehrere Wegverbesserungen und neue Anlagen sind in Arbeit. Vor allem der Hütten- und Wegebau stößt auf Interesse im ganzen Verein. Wo immer eine Sektion tätig wird, Beschreibungen veröffentlicht, Wege anlegt oder Hütten baut, entsteht ein neues Zentrum des aufkommenden Alpentourismus, das den Wohlstand der Bevölkerung in den meist abgelegenen Gebirgstälern steigert.
Vom Wegebau in Garmisch-Partenkirchen bis zur Schuhplattl-Gruppe in Berlin
Zu Beginn besteht der Alpenverein vor allem aus Akademikern, Unternehmern, Militär und Adeligen – kurz gesagt: aus Mitgliedern der gehobeneren Gesellschaftsschichten.
Die Zusammensetzung der Sektionen unterscheidet sich jedoch je nach Heimatort: Im von großen Textil- und Maschinenbauunternehmen geprägten Augsburg ist zum Beispiel der Anteil der Wirtschaftsbürger hoch. Adelige finden sich dafür verstärkt in Sektionen wie Garmisch-Partenkirchen und Berchtesgaden, touristische Hotspots der Zeit und Berchtesgaden zudem Residenz der Wittelsbacher. Erst später kommt es, beginnend in den Städten, zu einer Ausdifferenzierung der Sektionen und ihrer Mitglieder. 1894 gründet sich in München zum Beispiel die Sektion Bayerland, die sich nach der Jahrhundertwende zu einer Sektion für ausschließlich ausübende, leistungsstarke Bergsteiger entwickelt, bei der eine Aufnahmekommission über neue Mitglieder bestimmt. Dort finden sich dann vermehrt auch Arbeiter und Handwerker.
So unterschiedlich die Mitglieder, so unterschiedlich auch die Schwerpunkte der verschiedenen Sektionen: Die Sektion Bayerland bietet dem ausübenden Bergsteiger allerlei praktische Fortbildung – vom Kartenlesekurs über Erste-Hilfe-Kurse bis zu Lehrgängen im Felsklettern. Sie bringt auch ein Heftchen für den richtigen Seilgebrauch heraus.
Die Sektion Garmisch-Partenkirchen macht sich in ihrer direkten Nachbarschaft ans Werk, will den Tourismus fördern und erschließt die Höllentalklamm, die 1905 eröffnet und zu einer wichtigen Einnahmequelle der Sektion wird. 1906 kommen bereits 27.000 Besucher. Zur 25-Jahr-Feier der Sektion wird dann auch noch die Partnachklamm eröffnet.
Alpenferne Sektionen mussten größere Bemühungen unternehmen, um alpine Kultur zu erleben und zumindest für eine Zeit Teil davon zu sein: So gründet sich in Berlin eine Schuhplattl-Gruppe. Beim alljährlichen Winterfest verkleiden sich Sektionsmitglieder als Älplerinnen und Älpler mit Dirndl und Lederhose und rutschen auf einer „Alpenrutsche“ von der Bühne. Bei der Gewerbeschau 1896 wird sogar ein begehbares „Alpenpanorama“ aufgebaut: Eine Bergbahn bringt die Besucher auf die nachgebaute Berliner Hütte, auf der Edelgastronom und Sektionsmitglied Lorenz Adlon die Bewirtung übernimmt – gut zehn Jahre später gründet er das nach ihm benannte Luxushotel in Berlin.
Katharina Kestler, 2019.
Martin Achrainer: ‚Alle sind berufen mitzuwirken‘. Die Gründung des Deutschen Alpenvereins im Mai 1869, in: DAV (Hrsg.): Die Berge und wir. 150 Jahre Deutscher Alpenverein, München 2019
Marita Krauss: Alpenverein vor Ort: Die Sektionen, in: DAV (Hrsg.): Die Berge und wir. 150 Jahre Deutscher Alpenverein, München 2019
Im Titel verwendete Bilder:
Der Gasthof Zur Blauen Traube in München in der Dienerstraße 11, Stahlstich um 1850. Österreichischer Alpenverein, Archiv und Museum.
Telegramm von Paul Grohmann an Karl Hofmann, 7. Mai 1869. (Foto: ÖAV/Archiv und Museum)