Der DAV und Sportklettern bei Olympia – passt das?
Die Bedingungen sind perfekt: Die Sonne scheint auf die Outdoor-Kletterwände im Hof des neu eröffneten Landesleistungszentrums Bayern in Augsburg. Musik schallt aus den Lautsprechern. Der Moderator heizt die Zuschauer an, die auf dem Besucherhügel mitfiebern. Mit dem gebotenen 360-Grad-Blick müssen sie sich fühlen, als wären sie selbst ein Teil der Deutschen Meisterschaft. Kameras, Werbebanner und Medienleute beweisen, dass Sportklettern ein Event von großem, öffentlichem Interesse ist. Am vorletzten Griff passiert es dann, der Kölner Jan Hojer rutscht ab. Trotzdem erntet er Applaus, denn es ist klar: Er darf sich nun Deutscher Meister nennen. Nur wenige Minuten zuvor hat sich Frederike Fell aus Freising bei München den Titel in der Konkurrenz der Damen gesichert. Das Besondere an dieser Veranstaltung an diesem 15. Juli 2018: Zum ersten Mal findet eine Deutsche Meisterschaft im neuen Olympic Combined-Format statt, das mit der Aufnahme des Sportkletterns in das Programm der Olympischen Spiele 2020 in Tokio geschaffen wurde.
Das neue Format Olympic Combined
Bei Olympic Combined werden die bisherigen Disziplinen Speed, Bouldern und Lead nacheinander durchlaufen. Ein Combined-Wettkampf besteht aus Qualifikation und Finale. Die Ergebnisse der einzelnen Disziplinen werden multipliziert. Die Person mit dem niedrigsten Endergebnis gewinnt.
Ziel des Speedkletterns ist der Durchstieg einer Route in der maximalen Geschwindigkeit. An einer standardisierten Kletterwand treten zwei Athletinnen oder Athleten im Ausschlussverfahren gegeneinander an. Entscheidend für die Sportlerinnen und Sportler sind eine hohe Greif- und Trittpräzision sowie eine ausgeprägte Schnell- und Maximalkraft. Am Ende der Route müssen die Kletterinnen und Kletterer einen Knopf drücken, um die genaue Zeit zu bestimmen. Beim Bouldern geht es nur bedingt um Höhe und Zeit. Geklettert wird in Absprunghöhe ohne Seil; eine Weichbodenmatte sichert einen möglichen Sturz ab. Ziel ist es, anspruchsvolle Bewegungsabläufe und Einzelzüge zu meistern. Neben der richtigen Technik kommt es auf Beweglichkeit, Kraft und Ausdauer an. Das Leadklettern ist Klettern im ursprünglichen Sinn. Geklettert wird mit Seil an circa zehn bis zwanzig Meter hohen Kunstwänden. Eine zunächst unbekannte Route muss innerhalb einer festen Zeit erfolgreich durchstiegen werden. Kurz vor jedem Wettkampf, mit Ausnahme der Disziplin Speed, bekommen die Kletterinnen und Kletterer sechs Minuten Zeit, sich die Route einzuprägen. Während die Konkurrenz in der Wand ist, müssen sie sich dann in der sogenannten Isolationszone aufhalten, damit sie sich nicht gegenseitig beobachten und voneinander lernen – Voraussetzung für einen vergleichbaren und fairen Wettkampf. Die- oder derjenige gewinnt, der die größte erzielte Höhe in der angegebenen Zeit erreicht hat.
Die Entwicklung des Sportkletterns bis hin zu Olympia
Maßgeblich beteiligt an der Entwicklung des Sportkletterns in den letzten Jahren war und ist die International Federation of Sport Climbing (IFSC). Diese organisiert seit ihrer Ausgliederung aus der Union Internationale des Associations d’Alpinisme (UIAA), dem Weltverband der alpinen Organisationen, im Jahr 2007 die internationalen Wettkämpfe der bestehenden Disziplinen im Sportklettern.
Sportklettern zu den Olympischen Spiele zu bringen, war bereits bei Gründung der IFSC eines ihrer Ziele. Im Sommer 2016 beschloss schließlich das Internationale Olympische Komitee, fünf neue Sportarten in das Programm der Olympischen Sommerspiele 2020 in Tokio aufzunehmen. Neben dem Sportklettern werden Surfen, Baseball, Skateboarden sowie Karate dabei sein. Mit der Aufnahme neuer, aktueller Sportarten für jeweils nur einen Austragungsort will das IOC unter anderem erreichen, für ein jüngeres Publikum attraktiv zu bleiben.
Das wettkampfmäßige Sportklettern, vor allem das Speedklettern, hat in der ehemaligen UdSSR eine lange Tradition, die bis in die 1950er-Jahre zurückreicht. Seit den 1980er-Jahren organisiert auch der Deutsche Alpenverein Kletterwettkämpfe. Er baut seine Strukturen aus und professionalisiert sie. Allein die Zahl der Klettermöglichkeiten an künstlichen Anlagen steigt enorm an. So existieren Ende der 1980er-Jahre in Deutschland gerade einmal 20 Kletteranlagen, bis zur Jahrtausendwende wächst diese Zahl auf etwa 180. Heute können Breiten- und Spitzensportlerinnen und -sportler in rund 500 Hallen trainieren, die allerdings nicht nur der Alpenverein betreibt. Speziell für die Sportlerinnen und Sportler des Olympiakaders 2020 stehen auf ihre Anforderungen abgestimmte Klettermöglichkeiten in Leistungszentren und drei hauptberufliche Bundestrainer bereit. Für den Geschäftsbereichsleiter des Deutschen Alpenvereins im Bereich Bergsport, Wolfgang Wabel, kann das Sportklettern mit diesen Ausgangsbedingungen selbstbewusst in die Olympischen Spiele einsteigen:
»Olympia braucht Klettern mehr als Klettern Olympia braucht!« – Wolfgang Wabel, Geschäftsleiter des DAV im Bereich Bergsport (201, in „Die Berge und wir“)
Für und wider die Maschinerie Olympia
Die Entscheidung für das neue Kletter-Wettkampfformat Olympic Combined, genau wie für die Institution Olympia an sich, hat innerhalb und außerhalb der Kletterszene heftige Diskussionen ausgelöst.
„Das olympische Klettern, das Indoor-Klettern, ist für mich Plastikklettern, es geht dabei um einen Kräftevergleich“, sagt zum Beispiel der Boulderer Bernd Zangerl im Interview mit dem Tagesspiegel im vergangenen Jahr. Den Pionieren des Freikletterns in den 1970er- und 1980er-Jahren sei es um das Abenteuer gegangen, um die Entdeckung von unbekanntem Terrain, neuen Gipfeln und Herausforderungen – „es ging darum, die Grenzen und Möglichkeiten auszuloten“. Das Klettern draußen habe vor allem mit Inspiration und Kreativität zu tun und Indoor-Klettern mit diesen Ursprüngen nicht mehr viel gemein.
Olaf Tabor, seit 2012 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Alpenvereins und einer der Befürworter der Olympiateilnahme, sieht vor allem die große Chance, die Olympia bedeutet. So erhalte das Sportgeschehen weltweite mediale Aufmerksamkeit, die Bekanntheit der Athletinnen und Athleten steige schlagartig. Nationale Verbände erhielten teils erstmals staatliche Förderungen. Diese würden in die Sportlerinnen und Sportler investiert, um ihnen mit erweiterten Betreuungs- und Trainingsmöglichkeiten eine gezielte Olympiavorbereitung zu ermöglichen. Auch könne die Infrastruktur von Kletterhallen durch das zusätzliche Geld ausgebaut und eine verbesserte Bewerbung des Kletterns in den Medien und der Öffentlichkeit realisiert werden. Die gesteigerte Aufmerksamkeit erleichtere es wiederum den Athletinnen und Athleten, Sponsorenverträge abzuschließen. Für die meisten bedeutet Olympia jedoch noch weitaus mehr – ein einmaliges und unvergleichliches Sporterlebnis, wie Tabor hervorhebt:
»Wer sich für Olympia qualifizieren will, muss viel dafür opfern. Die Kletterer investieren viel Zeit in einer Lebensphase, in der ihre Altersgenossen ganz andere Dinge machen. Sie orientieren einen Teil ihres Lebens darauf, sie stellen ganz viele Dinge hinten an. Ich finde es überaus bemerkenswert, wenn sich jemand für diesen teils steinigen Weg entscheidet. Das neue Format verlangt, dass die Athletinnen und Athleten in einem Wettkampf in kürzester Zeit alle drei Disziplinen absolvieren. Viele Spitzenkletterer kommen dabei schon rein physisch an ihre Grenzen, weil allein die Haut an den Fingern die Belastung tolerieren muss. Von den konditionellen, motorischen und psychischen Anforderungen mal ganz abgesehen. Es gibt sicher viele andere Gleichaltrige, die sagen: ‚Auf Partys verzichten, Ausbildung verschieben oder strecken, viele angenehme Dinge des Lebens hintanstellen – im Leben nicht.‘ Aber die machen das.« Olaf Tabor, Hauptgeschäftsführer DAV (2019, in „Die Berge und wir“)
Neben den Chancen gebe es aber auch eine Kehrseite der Medaille: „Olympia ist ein großes Geschäft, das negative Aspekte mit sich bringt: Doping, Manipulation, Kommerzialisierung“, sagt Tabor. Eine derartige Veranstaltung ist außerdem stets verbunden mit staatlichem Einfluss und politischen Machtsymbolen. Boulderer Bernd Zangerl findet: „Politiker missbrauchen solche sportlichen Großereignisse immer wieder als persönliche Plattform.“ Weitere Gefahren, so die Diskussionen in verschiedenen Medien, entstehen durch die wachsende Bekanntheit der Sportlerinnen und Sportler und – damit verbunden – dem steigenden Erwartungs- und Leistungsdruck und der „Abhängigkeit vom Medaillenzählen“, so Tabor.
Sportliche Kritik am neuen Format
Das neue Wettkampfformat Olympic Combined, bei dem alle drei Disziplinen an einem Tag geleistet werden müssen, steigert zusätzlich den Druck auf Sportlerinnen und Sportler. Die österreichische Weltcupgesamtsiegerin im Bouldern, Anna Stöhr, erklärt: „Es ist schier so, als ob man Sprint, Hürdenlauf und Marathon zusammenfasst.“ Lena Herrmann, Sportkletterin aus dem Nationalkader, die nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen wird, kritisiert ebenso vor allem die Kombination der Disziplinen: „Ich denke, dass die Entwicklung der einzelnen Disziplinen dadurch gebremst wird.“ Der zur Weltspitze zählende, tschechische Sportkletterer Adam Ondra zweifelt vor allem an den starren Vorgaben von Regeln und Zeitlichkeit beim Speedklettern: „Sportklettern kommt aus dem Felsklettern, und daraus sind die Disziplinen Lead und Bouldern entstanden; aber Speedklettern ist eine künstliche Disziplin, die hat meiner Meinung nach nicht viel gemein mit der Idee des Kletterns.“ Ähnlich argumentiert die deutsche Medaillenhoffnung Alexander Megos aus Franken in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung:
»Für mich ist Felsklettern das wirkliche Klettern, weil Klettern nicht nur eine Sportart ist, sondern eine ganze Lebenseinstellung. […] Das Klettern ist jetzt in dieses Format gepresst worden, und so wird es der ganzen Welt bei Olympia präsentiert. Es kommt mir so vor, als wäre dieses ganze Olympia-Format eine Verzerrung der Wirklichkeit.« – Alexander Megos, Kletterer (17.7.201, Süddeutsche Zeitung)
Dennoch betont Megos, dass „die meisten Spitzenkletterer gesehen haben, dass es eine Chance darstellt, den Sport bei Olympia einem größeren Publikum zu präsentieren.“ So auch Adam Ondra, der trotz seiner Zweifel an allen Weltcups zur Olympia-Vorbereitung teilnehmen möchte: „Olympia ist ein ganz großes Ziel für mich, und ich werde alles tun, so gut wie möglich vorbereitet zu sein.“
Training im neuen Nationalkader
Romy Fuchs brennt seit ihrer Kindheit fürs Sportklettern. Mit acht Jahren nimmt sie schon an einem Kinderprogramm teil. Als Alexander Averdunk sieben Jahre alt ist, macht in der Nähe seines Wohnorts eine Kletterhalle auf. Jetzt sind beide im Nationalteam von Bundestrainer Urs Stöcker mit dem Ziel Olympia.
„Mit den Gedanken ist man auf jeden Fall jeden Tag beim Klettern“, schwärmt Alex. Auch Romys tägliches Leben dreht sich um nichts anderes mehr. Romy schwärmt von der „entspannten Community“ und dem besonderen Miteinander unter den Kletterern und Kletterinnen, für beide ist die Kletterszene wie eine große Familie.
Dennoch reicht das Geld bei beiden noch nicht, um den Sport hauptberuflich zu betreiben. „Auf unserem Level muss man quasi alle Weltcups gewinnen und zusätzlich gute Sponsoren haben, um davon leben zu können. Ich möchte auf jeden Fall noch etwas anderes machen und erst einmal studieren“, erklärt Romy. Alex arbeitet nebenher in einer Boulderhalle in München, mit dem Studium habe sich das Klettern nicht vereinbaren lassen, „weil ich manchmal mehrere Monate für Wettkämpfe unterwegs war. Dann ist es schwer, die Prüfungen zu bestehen“, erzählt er. „Höchstens Ausnahmeathleten wie ein Adam Ondra können von ihrer sportlichen Aktivität leben“, denkt auch Olaf Tabor.
Trainiert wird an fünf oder sechs Tagen die Woche, jeweils drei Stunden lang, erzählt Romy, manchmal auch zwei Mal pro Tag, dann jeweils zwei Stunden. Man brauche jedoch auch Ruhetage, vor allem für die Regeneration der Haut an den Fingerkuppen. Feste Trainingseinheiten finden gemeinsam mit dem Nationaltrainer statt. Den Rest kann sie nach einem Trainingsplan selbst gestalten. „In der Früh beginnt man meist mit Krafttraining oder Campusboard, am Abend geht es mit dem Bouldern weiter oder man geht Seilklettern, es ist wirklich sehr abwechslungsreich“, berichtet Romy. Da die Wettkämpfe stets am Morgen starten, reisen die Athletinnen und Athleten meistens bereits am Tag zuvor an. Oft habe man nämlich schon um sieben oder acht Uhr Isolationsschluss, erklärt Alex: „Ich wärme mich immer ungefähr zwei Stunden vor dem Start auf.“ Jede und jeder habe aber ihr oder sein individuelles Aufwärmprogramm. Romy macht zum Beispiel morgens im Hotel noch Yoga. „Dann geht man in die Isolationszone. Es kann passieren, dass man dort bis zu fünf Stunden auf seinen Start warten muss. In dieser Zeit wärme ich mich natürlich nicht nur auf, sondern quatsche eine Runde mit den anderen, spiele Karten oder schlafe ein bisschen“, erzählt sie.
Auch beim Wettkampf hält das Team zusammen. Mit dem französischen Begriff „Allez!“ feuert es sich gegenseitig an. „Beim Combined macht man alle drei Disziplinen so kurz hintereinander, dass natürlich auch das Aufwärmen und die Pausenzeiten angepasst werden müssen,“ sagt Romy. Insgesamt meint Alex zur Olympiateilnahme: „Ich glaube, wir sind professioneller geworden. Vor ein paar Jahren noch habe ich nur ein bis zwei Mal die Woche trainiert. Ich denke schon, dass das Leistungsniveau gestiegen ist, dazu gehört auch der gestiegene Trainingsumfang und dass alle Nationen intensiver trainieren.“ Und auch der Verband habe sich professionalisiert. In Bezug auf das Dreierformat äußert jedoch auch Romy Bedenken: „Wenn man alle drei Disziplinen trainieren muss, ist es schwierig, die absolute Maximalleistung in der Einzeldisziplin zu bringen.“ Sie hoffe, dass die einzelnen Disziplinen dadurch nicht an Qualität verlieren. Jedoch sei das neue Format auch ein Ansporn.
»Wenn man sich die Vergangenheit anschaut, in der man an den Wochenenden zum Klettern ins Gebirge gefahren ist, mit nur wenigen selbst gelegten Sicherungen, so richtig ‚old school‘, dann ist das Klettern jetzt natürlich komplett anders. Das ist aber einfach auch eine natürliche Entwicklung. Alles wird besser gemacht, stabiler und bequemer. Ich gehe ebenfalls gerne am Fels klettern und dort empfinde ich ein Freiheitsgefühl, welches ich auch in der Halle empfinde, dies wird nicht durch die neuen Entwicklungen im Sportklettern beeinflusst.« – Romy Fuchs, Nationalkader-Athletin Klettern (24.7.2018, in „Die Berge und wir“)
Die Verjüngung des Verbands
Der Deutsche Alpenverein hat sich in den letzten Jahren gewandelt. „Wir sind heute viel jünger, als manche glauben“, so Olaf Tabor. Gerade durch das Sportklettern durchlebe der DAV einen Imagewandel, vom traditionellen Bergsteigerverband hin zu einem moderner werdenden Sportverband. Zudem haben „insbesondere die Kletteranlagen dafür gesorgt, dass der Alpenverein im städtischen Raum sichtbarer wird.“ Etwa die Hälfte der Kletteranlagen in Deutschland werden vom Alpenverein betrieben, der Klettersport ist von einer ehemaligen Randsportart in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Rund 500.000 aktive Kletterinnen und Kletterer zählt der Alpenverein inzwischen in Deutschland. Für Sponsoren und Medien wird Sportklettern zunehmend interessant. Der Alpenverein unterstützt dies durch die eigene Kommunikations- und Vermarktungsinitiative „Climb to Tokyo“. Bei allem Engagement bleibt dem Alpenverein jedoch die Herausforderung, den Spagat zwischen bergsportlicher Tradition und modernem, urbanem Sport zu meistern.
Katharina Kestler, 2019.
Sebastian Bretzel, Leonie Meltzer, Silena Toman: Climb To Tokyo. Klettern bei den Olympischen Spielen 2020, in: DAV (Hrsg.): Die Berge und wir. 150 Jahre Deutscher Alpenverein, München 2019
Im Titel verwendete Bilder:
Alexander Averdunk an seiner heimischen Kletterwand. (Bild: Sebastian Averdunk)
Bundeskader Sportklettern bei der Einkleidung. (Foto: DAV/Marco Kost)