Die Berge und wir
Über 150 Jahre besteht der Deutsche Alpenverein – und die Faszination „Berg“ ist immer noch ungebrochen. Sie wächst weiter. Immer mehr Menschen entdecken ihre Liebe zu den Bergen, egal ob sie in oder nahe der Alpen geboren sind oder aus dem Flachland kommen. Studien, wie zum Beispiel vom deutschen Wanderverband, zeigen: Ist Bergliebe einmal entfacht, hält sie für immer. Bergmenschen bleiben den Bergen treu wie in einer guten Beziehung. Was sie in „ihren“ Bergen suchen und im besten Falle auch finden, ist sehr unterschiedlich: Erholung in einer ursprünglichen und romantischen Natur, einen Perspektivwechsel und Klarheit im Kopf, einen Spielplatz für den schnellen Adrenalinkick, ein Trainingsgelände zur Selbstoptimierung oder eine Herausforderung, um über sich selbst hinauszuwachsen. Dem modernen Menschen bieten die Berge wortwörtlich einen felsenfesten Gegenpol zum schnelllebigen Alltag, beständigen Fels statt vergänglicher Technik und echte Erlebnisse statt digitalem Konsum. Manchen geht es ganz einfach um Fernsicht und Kaiserschmarrn, anderen – ganz groß – um die Freiheit.
„Die Gründe, aus welchen diese Alpenfahrer die Gipfel erstürmen, sind verschieden. […] Die einen suchen […] das Schöne und Erhabene, die anderen die Gefahr und eine dritte Gruppe sucht Ruhm. Dazu kommt noch ein vierter Grund, nämlich das Bestreben, Anderen zur Befriedigung gleichen Dranges zu verhelfen, neue Wege und Stege zu erkunden.“ Max Haushofer (Zeitschrift des DAV, 1870/71)
Der Wandel des Alpenvereins
Was Max Haushofer schon 1870 schrieb, gilt heute noch, auch wenn sich die Interessen der „Alpenfahrer“ und damit der Vereinszweck des DAV im Laufe der Geschichte wandelten: Waren die Vereinsgründer noch an der Erforschung und touristischen Erschließung der Alpen interessiert, fingen die Mitglieder eine Generation später an, die körperliche Betätigung und die bergsteigerische Leistung in den Vordergrund zu stellen. Vor dem Hintergrund von politischem Engagement, weltweitem Austausch und Studentenbewegungen eroberte das Sportklettern in den 1970er Jahren die Felswände der Alpen und den DAV – und damit immer mehr das Interesse der breiten Öffentlichkeit. In den letzten Jahren – passend zum Zeitgeist der Selbstoptimierung und Vergleichbarkeit – wurde der Bergsport in Wettkämpfe gepackt und erreichte durch die Medien eine breite Zielgruppe. Naturschutz war für die Alpenvereinsmitglieder fast von Beginn an ein wichtiges Thema, angesichts von Erschließungsdruck und Klimawandel rückte er immer weiter nach oben in der Alpenvereins-Agenda. Von einem Verein, der die Bereisung der Alpen erleichtern wollte, wurde der DAV im Laufe seiner Geschichte zu einem Verein, der zwischen den Polen Sport und Naturschutz pendelt und sich dazwischen ab und an auch aufreibt. Er trägt einen Anteil daran, dass die Faszination Berge wächst: Immer mehr Menschen hören den sprichwörtlichen Ruf und sind mit dem Virus infiziert. Immer mehr Bergsüchtige gehen immer häufiger in die Berge.
Podcast von Deutschlandfunk Nova: „Die Faszination Berge zu besteigen“ mit dem Soziologen Hartmut Rosa
Die Berge haben die Stadt erobert
Umgekehrt haben wir uns die Berge aber auch in die Städte geholt: als Fotokalender an unsere Küchenwände, als Alpenkrimi ins Bücherregal, als Bergdoktor ins Fernsehprogramm, als Playmobil-Almhütte ins Kinderzimmer, als Biathlonwettbewerb ins Fußballstadion, als ausrangierte Gondel auf den Weihnachtsmarkt, als Alpen-Burger ins Restaurant oder als Bergbauernmilch in den Supermarkt. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Die Berge sind nicht nur beliebtes Reiseziel und Ausflugsort fürs Wochenende, sondern heute vor allem Lifestyle-Accessoire im Alltag geworden.
150 Jahre nach Gründung des Deutschen Alpenvereins sind die Berge so vom fernen und schwer erreichbaren Interessensgebiet einer privilegierten Elite zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen geworden, das alle Lebensbereiche durchdringt. Trotz oder vielleicht sogar gerade wegen ihrer Erschließung, zu deren Zweck der Alpenverein 1869 vor allem gegründet wurde, haben sie nichts an ihrem Reiz eingebüßt.
Der Berg als Instagram-Motiv
Die Sozialen Medien, allen voran Instagram, haben den Trend „Berg“ beschleunigt. 80 Prozent der 12- bis 35-Jährigen weltweit nutzen die Plattform regelmäßig. Mit neun Millionen geteilten Fotos täglich ist die App ein wichtiges Trendbarometer der Gegenwart. Fast die ganze Welt ist dort vertreten – vom Papst über Angela Merkel bis zum Deutschen Alpenverein selbst. Berge sind eines der beliebtesten Motive auf Instagram: Sie werden als märchenhaft stilisierte Sehnsuchtsorte millionenfach gepostet, geliked, kommentiert und weiterverbreitet. Hashtags wie #hiking oder #mountainlove zählen heute zu den populärsten der Plattform: Alleine mit dem letztgenannten wurden bis heute 1,4 Millionen Posts versehen und es werden täglich mehr.
„On top of the mountains where everything makes sense… What mountain peak is the next one on your to-do-list?“ www.instagram.com/deutscheralpenverein
Es sind Bilder von klaren Bergseen, in denen sich die umstehenden Hänge spiegeln; Bilder von Felsgraten, die aus dem Nebel ragen; Bilder von weiten Bergpanoramen, in romantisches Abendrot getaucht, ein Boot, ein Weg, der am Horizont verschwindet. Die Bilder laden dazu ein, sich wegzuträumen, in eine Welt, die einfach und in Ordnung ist und nach klaren Regeln funktioniert: oben ist oben und unten ist unten. Sie erzählen von wunderbaren Ausflügen in die Wildnis, von der Begegnung mit einer überwältigenden Natur, von einer meditativen Auszeit fernab des städtischen Trubels, von Orten, an denen die Zeit stillzustehen scheint. Oft zeigen sie eine Figur von hinten, die zum Horizont blickt und es braucht nicht viel, dass ihr Blick zu dem des Betrachters wird: Wie schön wäre es, jetzt von diesem Gipfel aus ins Tal zu blicken?
Bergmotive – damals und heute
Dahinter steckt ein visuelles Erfolgsrezept, das viel älter ist als das Internet, sogar älter als die Fotografie. Der Greifswalder Maler Caspar David Friedrich ist mit seinem 1818 entstandenen Bild „Wanderer über Nebelmeer“ einer der bekanntesten Vertreter eines solchen romantischen Blicks auf die Natur. In dem Gemälde spiegelt sich der Geist der deutschen Romantik und der gesellschaftliche Wandel um die Jahrhundertwende: Der bürgerliche Wanderer tritt der Welt gegenüber – den Blick in die Ferne, scheinbar in eine selbstbestimmte Zukunft gerichtet.
Der Wanderer kehrt nun millionenfach und in endloser Wiederholung auf Instagram wieder: Die Posts wirken so gleichförmig wie Abziehbilder. Dabei könnte die Plattform eigentlich ein Mehr an Individualität und Authentizität ermöglichen. Denn es ist zumindest in der Theorie jedem überall auf der Welt möglich, mit einem ganz persönlichen Schnappschuss ein Milliarden-Publikum zu erreichen – ganz demokratisch, ganz ohne Fotografieausbildung, Journalismusstudium und ohne die einschränkenden Abnahmeinstanzen eines konventionellen Mediums zu durchschreiten. Doch die Algorithmen der Plattform bewerten nicht größtmögliche Individualität und Echtheit als Erfolg und spülen diese Posts in den Timelines nach oben, sondern das, was der Masse gefällt – den kleinsten gemeinsamen Nenner, die stupide Wiederholung immer gleicher, geschönter und unrealistischer Erfolgskonzepte. So drängt sich der Eindruck auf, dass es gerade in den erfolgreichen und von zehntausenden mit Herzen bedachten Bergposts nicht um Authentizität geht, sondern der Berg zur bloßen Kulisse verkommt.
Instagram erschuf Trendberge
„Inspiration“ ist ein großes Wort auf Instagram und die Inspiration wirkt: Nicht nur im Sinne des Nachknipsens immer gleicher Bilder, auch im Sinne des Nachreisens und Nachbesteigens. Die Foto-App wurde nicht nur zur Werbemaschine für alle möglichen Produkte und Dienstleistungen, sondern hat auch globale Trendorte und Trendberge geschaffen. In der Folge mussten solche Trendberge einem unglaublichen Ansturm digital versierter Bergfans standhalten. Erste negative Auswirkungen auf die Natur zeigten sich in den vergangenen Jahren an Orten weltweit, vom Yosemite bis Neuseeland, Finnland bis Österreich. Am Schrecksee beispielsweise, idyllisch gelegen auf 1.813 Metern in den Allgäuer Alpen mitten im Naturschutzgebiet, führte ein sich rasch verbreitender Instagram-Post eines Wildcampers im Juli 2016 zum massenhaften Andrang Gleichgesinnter. Bald säumten den See an Wochenenden täglich bis zu 30 Zelte. Es ging laut zu, Müll wurde einfach liegen gelassen und Weidezäune verfeuert.
Die Sozialen Medien als Chance?
In unserer digitalen Gesellschaft, die sich nun mal über Soziale Medien informiert und darüber kommuniziert, ist der Trend nicht umzukehren. Tausende Menschen tragen durch ihre Posts Ausschnitte ihrer vermeintlichen Bergrealität in den Alltag einer breiten Masse. Ein Fakt, den man – neben aller Kritik und allen negativen Folgen – aber durchaus auch als Chance begreifen kann: Denn längst hat sich in den Sozialen Medien eine Community formiert, die die Plattform und ihre Funktionsweise kritisch hinterfragt. Neben Feeds, die uns das immer gleiche geschönte Ideal vorgaukeln, finden sich auch Instagrammer, die für den Bergsport wichtige Themen transportieren. Achtsamkeit, Nachhaltigkeit und Minimalismus. So hat sich zum Beispiel das Outdoor Blogger Network gegründet, das sich in seinem Kodex unter anderem zu Authentizität und Transparenz verpflichtet.
Der Alpenverein und die Sozialen Medien
Im bewussten Umgang mit den Sozialen Medien liegt auch für den Deutschen Alpenverein ihr Potenzial. Der Instagram-Kanal des Alpenvereins zeigt die Berge in sehr unterschiedlichen Facetten: als Lebensraum für Menschen und Tiere, als schützenswerte Ressource, als Ort für gemeinschaftliche Unternehmungen, mit allen Mühen und Gefahren, aber auch in ihrer Schönheit. Die aktuelle, internationale Kampagne #UnsereAlpen der drei Alpenvereine (DAV, ÖAV, SAC) zum Beispiel macht vor allem über Instagram und Facebook auf die durch Erschließung und Zerstörung bedrohte Schönheit und Ursprünglichkeit der Alpen aufmerksam. In kürzester Zeit hat sich die Community in diesem Zusammenhang mit 4.500 Posts unter dem Hashtag #UnsereAlpen für den Naturschutz stark gemacht und die Forderungen des DAV an die Europapolitik unterstützt. Unter dem Hashtag #dankealpenplan formierte sich die Bergsteigercommunity bereits 2015 für den Erhalt des Alpenplans und gegen die bauliche Erschließung des Riedberger Horns. Mit großem Erfolg: Am 30. April 2019 beschloss das Bayerische Kabinett den Alpenplan wieder in Kraft zu setzen.
Die Sozialen Medien verhindern sicherlich bisweilen durch romantisierte Instagram-Fotografien den Blick darauf, was in den Bergen wirklich vonstattengeht. Doch sie bieten genauso die Chance, die wachsende Zahl „Bergsüchtiger“ eben darauf aufmerksam zu machen. So kann Instagram nicht nur zum Besteigen der immer gleichen Trendberge inspirieren, sondern auch zu einem nachhaltigen und klimafreundlichen Berggenuss. Der Alpenverein ist sich seiner medialen Verantwortung angesichts des wissenschaftlich immer wieder bestätigten Megatrends „Berg“ bewusst. Er hat in den neuen Kommunikationskanälen Position bezogen und sich für die Herausforderungen der Zukunft in Stellung gebracht.
Die Berge und ich – Dokumentation Bayerischer Rundfunk
Sind die Berge für mich nur Instagram-Kulisse? Oder Sportplatz? Woher kommt meine Bergliebe – und die meiner Freunde? Wie nachhaltig ist meine Bergsehnsucht? Bergkind – und Instagrammerin – Katharina Kestler erzählt ihre ganz persönliche Geschichte der großen Berg-Leidenschaft und versucht zu ergründen, warum die, die „den Ruf hören“ sich den Bergen nicht entziehen können. Sie geht mit Frauen der Bergcommunity Munich Mountain Girls an der Kampenwand mountainbiken, probiert sich an der Baumgartenschneid im Trailrunning mit Marlen Franke und wandert mit ihren Eltern auf den Spuren der Vergangenheit am Seekarkreuz.
Katharina Kestler, 2019.
Daniel Habit: Urbane Alpen – Alpine Urbanitäten. Zur Ausweitung der Berge und des Bergsports im städtischen Raum, in: DAV (Hrsg.): Die Berge und wir. 150 Jahre Deutscher Alpenverein, München 2019
Katrin Kaschadt: Die Wiederverzauberung der Welt. Bergfotografie auf Instagram, in: DAV (Hrsg.): Die Berge und wir. 150 Jahre Deutscher Alpenverein, München 2019
Im Titel verwendete Bilder:
(Foto: DAV/Silvan Metz)