Von den unsichtbaren Frauen
Eine junge Frau reißt freudig ihre Hand in die Höhe, neben ihr das Gipfelkreuz des Großglockners. Im Viereck gleich daneben endet ein Schwenk über ein beeindruckendes, verschneites Bergpanorama auf einer zufrieden lächelnden Dame, die erklärt, sie stünde nun endlich am Gipfel des Piz Bernina. Und im Kästchen darunter zwei Mädels in Shorts und mit Laufschuhen im Abendlicht auf einem Wanderweg gen Gipfel. Die Frauen haben die Berge für sich entdeckt, es scheint oberflächlich sogar, als hätten sie die Männer verdrängt. Der regelmäßige Instagram-Nutzer wird dem zustimmen. Doch wie sehr entspricht dieser flüchtige Eindruck einer von Inszenierung beherrschten, mit Filtern aufgepeppten und von Algorithmen gesteuerten Social-Media-Welt der Realität? Wie ist es um die Gleichberechtigung in den Bergen wirklich bestellt – und wie steht es um die Geschlechtergerechtigkeit im Deutschen Alpenverein?
Offen für Frauen – oder doch nicht so richtig?
Von 36 Herren gegründet, aber offen für Frauen – das ist der Alpenverein in seinem Gründungsjahr 1869. Fünf Jahre nach seiner Gründung verzeichnet er mit zwei Prozent aus heutiger Sicht nur wenige, aber immerhin einige weibliche Mitglieder. Ein Grund dafür sind die Sektionen, die am Anfang sehr unterschiedlich mit ihren Bergkameradinnen umgehen. In Berlin bleiben die Männer bis 1929 unter sich, die Sektion Garmisch-Partenkirchen hingegen zählt bereits 1889 sieben Frauen von insgesamt 125 Mitgliedern. Später gehörte zu dieser Sektion zum Beispiel auch Lilly Weyrauch von Weech, die nach eigenen Angaben 1906 die Bergführerprüfung ablegt und damit eine der ersten FührerINNEN ist.
Die Sektion München hat sogar eine Berühmtheit unter ihren ersten weiblichen Mitgliedern: Erzherzogin Marie Therese, spätere Königin von Bayern. 1960 wird dann die sogenannte Ehefrauenmarke für verheiratete Frauen, teils unter starkem Protest, abgeschafft: Sie war günstiger als die Vollmitgliedschaft und bot Frauen zwar Ermäßigungen auf Hütten, aber keinerlei Mitbestimmung in der Sektion. Die Sektion Bayerland, die sich die traditionellen Werte des Bergsteigens auf die Fahnen schreibt, nimmt Frauen erst seit 1990 auf. Die Sektion Berggeist ist nochmal sieben Jahre später dran. Seit 2004 gibt es im DAV die gemeinsame Mitgliederdatenbank, die nach Geschlechtern unterscheidet: Damals sind 38 Prozent der Mitglieder Frauen, die weiblichen Sektionsvorsitzenden machen jedoch nur drei Prozent aus.
Wenn diese Zahlen heute erschreckend erscheinen, so ist es um die Rolle der Frau im Alpenverein jedoch nicht viel anders bestellt als um die Rolle der Frau in der Gesamtgesellschaft – egal ob damals oder heute. Gemäß des Bayerischen Vereinsgesetzes von 1850 durften Frauen politischen Vereinen nicht beitreten, und auch in geselligen Vereinen blieben die Männer meist unter sich. Die im 19. Jahrhundert vorherrschenden bürgerlichen Geschlechterideale erwarten zudem, dass sich Frauen auf ihre privaten Verpflichtungen in Ehe und Mutterschaft konzentrieren.
Historikerin Martina Gugglberger, die zur Geschichte von Frauenexpeditionen in den Himalaya geforscht hat, stellte bei ihren Recherchen fest, dass Frauen noch lange eine geringere Eignung für den Alpinsport zugesprochen wurde. Bergsteigen sollten sie bestenfalls maßvoll und zurückhaltend praktizieren, sonst drohe die Gefahr einer Vermännlichung des weiblichen Körpers. Muskeln entsprachen eben nicht dem damals gängigen Schönheitsideal.
Unbekannte Heldinnen
Doch es gibt sie bereits Ende des 19. Jahrhunderts: Frauen, die auf Geschlechterschubladen pfeifen und trotzdem in den Bergen unterwegs sind. Es sind meist Frauen aus gehobenen und wohlhabenden Schichten – Schichten, denen übrigens die meisten Bergsteiger zu dieser Zeit entstammen –, die sich den Ausbruch aus dem familiären Umfeld nicht nur finanziell, sondern auch gesellschaftlich leisten können.
Zum Beispiel die Irin Elizabeth Main. Sie verliebt sich in den 1880er Jahren in Chamonix in die Berge, steigt alsbald auf die Grandes Jorasses, den Mont Blanc und meistert die Erstbesteigung des Bishorn-Ostgipfels, um nur einige zu nennen. 1907 gründet sie in London den „Ladies Alpine Club“, in den auch die Britin Lucy Walker eintritt – sie hat 1871 als erste Frau das Matterhorn bestiegen. Die erste Deutsche auf dem berühmten Zermatter Wahrzeichen war Mitglied der Sektion Frankfurt am Main und dort als bergsteigende Frau eine absolute Exotin: Anna Voigt, 1847 in eine sehr wohlhabende Erfurter Kaufmannsfamilie geboren. Heutzutage ist sie eine nahezu Unbekannte, dabei schwärmt im September 1878 die Berliner Damenzeitung „Bazar“ regelrecht von ihr:
»So kann denn nicht geleugnet werden, dass Fräulein Voigt unter die Bergfexen ersten Ranges zählt und ihr als Dame die Palme um so eher zu reichen ist, als sie bei ihren tollkühnen Unternehmungen nicht eitler Regung, sondern – wie sie selbst sagt – nur unwiderstehlichem innerem Herzensdrange folgt.« – Berliner Damenzeitung „Bazar“ (1878).
Noch zwanzig Jahre nach Anna Voigts Beitritt in die Sektion diskutiert man in Frankfurt darüber, ob Damen zu geselligen Abenden zugelassen werden sollten. Doch die Aufzeichnungen der Sektion zeigen auch, dass man ihr für ihre bergsteigerischen Leistungen großen Respekt entgegenbrachte und Stolz verspürte, sie in den eigenen Reihen zu haben. Zu Recht! Insgesamt kann Anna Voigt an ihrem Lebensende auf 17 Jahre Bergsteigerkarriere mit vielen alpinistisch anspruchsvollen Projekten zurückblicken.
Auf dem Berg, aber nicht in den Büchern
Der Berg war also keineswegs ein Spielplatz nur für Männer – doch warum sind diese frühen Alpinistinnen so unbekannt? Joachim Schindler, der sich mit der Geschichte der Kletterinnen in Sachsen auseinandersetzt, schreibt, dass Frauen als Witzfiguren oder Karikaturen dargestellt wurden – „die Frau des Bergsteigers Tod“ soll es sogar geheißen haben. Nur wenige der Frauen, die offenbar Hohn und Spott ausgesetzt waren, schrieben ihre Bergabenteuer nieder, und taten sie es doch, fanden sie sehr viel seltener Abnehmer und Publizisten als ihre männlichen Kollegen. Eine Ausnahme war zum Beispiel die englische Alpinistin Maud Wundt, die bereits 1901 einen Artikel über „Berühmte Bergsteigerinnen“ schreibt. In die Publikationen des Alpenvereins schafft es dieser Artikel allerdings (leider) nicht.
Mehr Erfolg hatte da Margarete Große: Als zweite Frau überhaupt schreibt die sächsische Bergsteigerin und Ballonfahrerin, die mit ihrer Schwester Elisabeth mehrfach den Mont Blanc bestieg, 1911 einen Beitrag im Alpenvereinsjahrbuch: Ein Essay zum Thema Alpenluftfahrten, von einer Frau, und das auch noch auf Seite 1 – das war äußerst ungewöhnlich für die Zeit. Dennoch tut man sich heute schwer, sie in der alpinen Geschichtsschreibung zu finden.
Genauso ist der komplizierte und deshalb sehr einprägsame Name Eleonore Noll-Hasenclever heute selbst leidenschaftlichen Bergfreunden meist kein Begriff: Sie war wie Anna Voigt Mitglied der Sektion Frankfurt am Main, Bergpionierin, Mutter, häufig ohne Mann unterwegs und die bedeutendste Bergsteigerin ihrer Zeit. Meist geht sie führerlos oder führt andere auf ihre geliebten Gipfel. Ihre Aufsätze und Fotografien werden gesammelt in Buchform unter dem Titel „Den Bergen verfallen“ herausgegeben – allerdings erst nach ihrem Lawinentod 1925 am Weißhorn.
Tipp: radiodoku über „Die Bergpionierin Eleonore Noll-Hasenclever“
Heute ist sie fast vergessen. Doch Anfang des 20. Jahrhunderts versetzte Eleonore Noll-Hasenclever die noch junge alpine Bergsteiger-Szene in Aufregung, weil sie regelmäßig selbst geübte Kollegen hinter sich ließ und schneller und mutiger als alle anderen in jede Steilwand stieg. Schwer auszuhalten war das für manche Bergführer, die sie offen anfeindeten und in einem Fall sogar nachts ihre Seile zerschnitten. Und doch konnten sie die Gipfeljagd dieser waghalsigen Frau nicht aufhalten.
Auch die deutsche Bergsteigerin Hettie Dyhrenfurth schreibt ihre Erlebnisse nieder und sollte daher eigentlich bekannter sein, hatte sie doch außerdem einen Rekord in der Tasche: Mit der Besteigung des Westgipfel des 7.315 Meter hohen Sia Kangri stellt sie den Höhenweltrekord der Frauen auf, der 20 Jahre Bestand hatte. Ihr Buch „Memsahb im Himalaja“, was in etwa bedeutet „Dame im Himalaja“, beschreibt die Expedition aus ihrer ganz persönlichen, weiblichen Perspektive und ist auch wegen ihres unpathetischen Stils äußerst modern für ihre Zeit.
Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, das für die Entwicklung des Bergsteigens als Sport entscheidend war, werden es immer mehr Frauen am Berg. Die Südtirolerin Paula Wiesinger geht zum Beispiel viele der schwersten Routen in den Dolomiten als erste Frau und im Vorstieg. Sogar der belgische König bucht Wiesinger als Führerin für seine Urlaube in Südtirol. Gleichzeitig ist sie eine der besten Skifahrerinnen ihrer Zeit: 1932 wird sie Abfahrtsweltmeisterin und sieben Mal italienische Meisterin.
Der DAV wird weiblicher
Heute sind Frauen in den Ehrenämtern des Deutschen Alpenvereins mit einem durchschnittlichen Anteil von knapp 25 Prozent in den Bundesverbands- und rund 30 Prozent in den Sektionsgremien immer noch unterrepräsentiert. Zum Vergleich: der Frauenanteil 2018 in den Führungsetagen deutscher Unternehmen beträgt 24 Prozent. Nur neun Prozent der Sektionsvorsitzenden sind weiblich. Es hat sich dennoch viel getan. Auf Mitgliederebene steigt der Frauenanteil kontinuierlich: Zum Jahreswechsel 2018/2019 waren 42,6 Prozent der Mitglieder weiblich. Im Präsidium des Bundesverbandes waren, Stand 2019, drei von sieben Mitgliedern Frauen, also über 40 Prozent. Verglichen mit dem Frauenanteil in Präsidien anderer Mitgliedsverbände des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), wo der Frauenanteil nur um die 26 Prozent liegt, ist das eine hohe Zahl.
Was ist passiert? Ein großer Teil der Basisarbeit geht sicherlich auf Lotte Pichlers Konto. Sie war 1975 als Bundesjugendleiterin die erste Frau in der Führungsebene des DAV. Die Buchhändlerin aus München war Teil der Kulturszene der 68er-Bewegung und bringt deren Ideale mit in die Verwaltungsgremien des Alpenvereins. Im Bundesjugendausschuss des DAV engagiert sich die „rote Lotte“ für neue gesellschaftspolitische Erziehungs- und Bildungsziele für die Vereinsjugend. Sie setzt zum Beispiel eine Jugendbildungsstätte durch.
In den 2000er Jahren, vor dem Hintergrund der sogenannten Gender-Mainstreaming-Bewegung, die gesellschaftlich an Fahrt gewinnt und Geschlechtergerechtigkeit umsetzen will, schreibt der DAV Chancengleichheit und Frauenförderung in den Vereinszielen fest, beschließt konkrete Maßnahmen, um Frauen für Führungsaufgaben zu gewinnen, setzt zum Beispiel eine Projektgruppe Frauen ein, die Ulrike Seifert über Jahre leitet. Später wird Seifert mit dem Gleichstellungspreis des Deutschen Olympischen Sportbunds und mit dem Bundesverdienstkreuz für ihre Dienste im Bereich Chancengleichheit und Familienpolitik im DAV ausgezeichnet.
Vom Ergebnis dieser Arbeit profitiert heute quasi die Nachfolgerin von Lotte Pichler, die 26-jährige Sunnyi Mews. Die Psychologin war von 2016 bis 2019 Bundesjugendleiterin und Vizepräsidentin im DAV. Als der weibliche Teil der paritätischen Doppelspitze des JDAV engagiert sie sich für Themen wie Nachhaltigkeit und geschlechtliche Vielfalt.
Die gleichen Chancen auch am Berg
Und auch im Bergsport herrscht immer mehr Chancengleichheit: 2011 ging der Frauenexpeditionskader erstmals an den Start. Ziel der fast dreijährigen Förderung von jungen Bergsteigerinnen ist ein eigenständiges Expeditionsteam, das in der Lage ist, Erstbegehungen und Erstbesteigungen im Höhenbergsteigen zu meistern. Die wachsende Beliebtheit des Frauenkaders lässt sich an der steigenden Zahl der Bewerberinnen erkennen. Einen gemischten Expedkader gab es bereits seit 2000.
An ihm hat eine Frau teilgenommen: Die Diplomphysikerin und Profibergführerin Dörte Pietron aus Heidelberg. Als erster Frau gelang ihr die Durchsteigung der Westwand des Cerro Torre, der als einer der schönsten und schwierigsten Berge der Welt gilt. In der gleichen Region gehörte sie der ersten Frauenseilschaft an, die am Nordwestpfeiler des Cerro Fitz Roy die „Afanassieff-Route“ klettern konnte. Auf ihr Konto gehen zudem diverse Yosemite-Bigwalls wie Nose, Astroman und Regular. Seit einigen Jahren trainiert sie nun auch den DAV-Frauenexpedkader und schließt so den Kreis.
Und nun? Was bringt Frauen heute weiter – am Berg, im Verein und im Leben? Dazu bekommen drei prägende Frauen des Alpenvereins die letzten Worte:
Ulrike Seifert:
»Frauen müssen selbst gestalten. Sie dürfen nicht in die zweite Reihe zurück und sagen: ‚Lass das mal die anderen machen!‘ Das ist manchmal ein steiniger Weg, aber man muss neugierig sein, etwas ausprobieren. Und es sollten auch die anderen Frauen in den Blick genommen werden, um sich solidarisch mit ihnen für Frauenbelange einzusetzen.« (2019, in „Die Berge und wir“)
Sunnyi Mews:
»Traut euch! Und macht euch frei von dieser Frage, ob ihr das könnt oder nicht. Ich glaube, Frauen stellen sich diese Frage häufiger als Männer. Es wäre viel wert, diese Zwischenfrage auszulassen und einfach aufzustehen für die eigenen inhaltlichen Belange und Ziele.« (2019, in „Die Berge und wir“)
Lotte Pichler:
»Die eigenen Ziele verfolgen. Genauso wie beim Bergsteigen: Schritt für Schritt, unbeirrt, aber aufmerksam, sorgsam auf das Ziel hin. Und sich auf gar keinen Fall durch männliches Überlegenheitsgehabe beirren lassen. Bei Problemen stehen Männer genauso hilflos in der Landschaft rum wie Frauen.« (2019, in „Die Berge und wir“)
Tipp: Dörte Pietron auf der „Blauen Couch“ in Bayern1
Sie ist eine Ausnahmekletterin: Dörte Pietron fühlt sich nur in den Bergen zu Hause. Menschen findet sie eher anstrengend. „Was mir wichtig ist, mach ich am liebsten sofort“, sagt sie bei Thorsten Otto auf der Blauen Couch.
Katharina Kestler, 2019.
Caroline Fink/Karin Steinbach: Erste am Seil. Pionierinnen in Fels und Eis. Wenn Frauen in den Bergen ihren eigenen Weg gehen, Innsbruck 2013
Martin Frey: Nahezu vergessen: Frl. Anna Voigt (Erfurt), die wohl erste deutsche Alpinistin (1847-1920). Versuch einer Annäherung, 2019
Christine Frühholz: Drei Generationen Frauen im Dienst des Alpenvereins, in: DAV (Hrsg.): Die Berge und wir. 150 Jahre Deutscher Alpenverein, München 2019
Martina Gugglberger: ‚A Woman ́s Place is on Top.‘ Zur Geschichte des ‚Frauenalpinismus‘, in: ÖAV (Hrsg.): Bergauf, Innsbruck 2017
Marita Krauss: Alpenverein vor Ort: Die Sektionen, in: DAV (Hrsg.): Die Berge und wir. 150 Jahre Deutscher Alpenverein, München 2019
Eleonore Noll-Hasenclever: Den Bergen verfallen, Berlin 1932
Ingrid Runggaldier: Frauen im Aufstieg. Auf Spurensuche in der Alpingeschichte, Bozen 2011
Joachim Schindler: Wer waren Margarete und Elisabeth Große?
Joachim Schindler: Mit Liebe am Seil, in: Sächsische Zeitung, 5. Dezember 2018
Maximilian Wagner: Bergsteigen in Fels, Eis und Schnee, in: DAV (Hrsg.): Die Berge und wir. 150 Jahre Deutscher Alpenverein, München 2019
Im Titel verwendete Bilder:
Frauenexpedkader, 2018. (Foto: DAV/Silvan Metz)
Mädchengruppe von Gertrud Tohmele 1955 im Karwendel. Thomele war in den 1940er Jahren Jugendgruppenleiterin in der Sektion Ebersberg-Grafing und gründete dort eine der ersten Mädchengruppen im Alpenverein. (Foto: DAV/Archiv)