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Bouldern: Kung Fu vertikal

Ach Deutschland! Wir Deutschen tun uns mit den kleinen Abenteuern schwer. „What's the name?“ fragt der damals beste amerikanische Kletterer Boone Speed den deutschen Erschließer eines tollen Felsriegels im Frankenwald. „Keine Ahnung, es geht da halt irgendwo in der Mitte hoch“, sagt der Erschließer und zeigt auf die Traumlinie. „Dude, das Ding muss einen Namen haben! Das ist besser als Midnight Lightning!“, entsetzt sich Boone. Gestern war er noch in England, wo sogar jeder Griff in den bekannten Bouldergebieten einen Namen hat – hier in Franken findet er eigentlich alles besser, nur die Locals scheinen sich zu schämen und geiles Bouldern nur im Ausland zu verorten.

 

Der kleine Dialog fand Mitte der 1990er Jahre statt, etwa zur Zeit der Geburt des modernen Boulderns. Damals tauchten die ersten Crashpads auf, als Gastgeschenk hatte mir Boone einen Prototypen mitgebracht. 2012 haben wir eigentlich alles! Crashpads, die besser gedämpft und teurer sind als unsere Betten, überlange Bürsten, die auch den entlegensten Griff noch gründlich bürsten können, und Schuhe, die dermaßen am Fels kleben, dass sie oft das Letzte sind, was sich bei einem Sturz von der Wand löst! Aber vor allem haben wir das Internet!

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Natur an der Ruhr - Nur 10 Minuten vom Elternhaus entfernt findet Layla Mammi steilen Sandstein, Foto: Udo Neumann
Deshalb darf dieser Artikel vage bleiben, was konkrete Orte und Personen anbelangt. Jeder kann vom Küchentisch aus die Geologie der Umgebung erkunden und sich dann durch eine Wanderung vor Ort selber ein Bild machen.

 

Wer es nicht schafft, alle Informationen im Internet zu finden, der wird auch ein großartiges Boulderproblem nicht sehen, wenn es direkt vor ihm steht! Felsbouldern entsteht aus einer Mischung aus Natur und Inspiration: Abgefahrene Gesteinsformationen haben wir in Deutschland genug – wir brauchen nur die Kreativität, diese auch zum Bouldern zu nutzen! Warum überhaupt draußen bouldern? Die Zecken sind alle verseucht, Mückenstiche jucken ewig, und irgendwie ist es immer zu schwitzig oder zu eisig! Boulderhallen dagegen sind optimal temperiert, finden sich inmitten von Großstädten und haben einen unschlagbaren „Sehen und Gesehen werden“-Faktor. Und: Es ist immer ein Mensch verantwortlich, für das Gute (genialer Routenbau, köstlicher Cappuccino!) wie das Schlechte (aua Griffe, arrogante Schnösel, bizarre Bewertungen).

 

Genau das ist, neben Nebensächlichkeiten wie Frischluft, Vogelgesang und tollen Sonnenuntergängen, der grundsätzliche Unterschied zwischen drinnen und draußen: In der Halle konsumiere ich, was mir vorgesetzt wird, draußen bin ich für meine Erfahrung selber verantwortlich. Felsbouldern ist von seinen geistig-körperlichen Anforderungen her eine Art physisches Schach. Gut zu bouldern fordert die komplette Synchronisation der mentalen und der körperlichen Existenz. Deswegen nannte der Urvater des modernen Boulderns, der amerikanische Mathematikprofessor John Gill, Boulderprobleme auch Probleme und nicht „Boulder“ – es geht um die Lösung!

 

Ein Problem auszubouldern hat von den unvorstellbaren Möglichkeiten her Ähnlichkeit mit der unendlichen Vielfalt des Schachspiels. Ändere ich ein kleines Detail meiner Sequenz, halte ich zum Beispiel einen Griff aufgestellt statt lang, so muss ich oft auch alle Züge VOR diesem Griff überdenken, weil mir vielleicht mit meiner bisherigen Sequenz die Reichweite zum Aufstellen fehlt. Hinzu kommt die Zeitebene. Selbst mit Kenntnis einer genauen Tritt- und Griffsequenz fehlt mir noch die Information, WANN man den Zug macht. Dies ist aber bei vielen Problemen DIE entscheidende Information! Kann ich eventuell beim Umstellen der Füße einen kleinen Ruckler zum Aufstellen der Finger nutzen? Nein, leider nicht! Aber mich vielleicht beim letzten Zug davor höher stellen? Das macht diesen Zug zwar deutlich schwieriger, aber dafür bekomme ich den Griff richtig!

 

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Daniel Jung bei Siegen, Foto: Udo Neumann
Wenn man einige Zeit mit solchen Fragestellungen und dem Ausprobieren von Lösungen verbringt, kommt man unweigerlich in einen Zustand der „moving meditation“, als die John Gill das Bouldern beschrieben hat. Meditation hat zwei Aspekte, den der Konzentration und den der Achtsamkeit. Konzentration besteht darin, sich aufmerksam auf ein Objekt oder eine Handlung – wie etwa den Zug zu einem kleinen Fingerloch einzustellen, darauf seinen Blick zu fokussieren und die ganze Aufmerksamkeit für diesen begrenzten Wahrnehmungsbereich aufzuwenden. „Achtsamkeit“ hat eine dazu entgegen gesetzte Ausrichtung. Hier wird der Fokus der Aufmerksamkeit nicht gezielt eingeengt, sondern weit gestellt – mit dem Idealergebnis einer umfassenden, klaren und hellwachen Offenheit für die gesamte Fülle der Wahrnehmung im gegenwärtigen Moment.

 

Beim Klettern entscheidet die Qualität der Konzentration über unseren Erfolg. Achtsam sein müssen wir beim Klettern gegenüber unserem Körper, unserer Geisteshaltung und unserer Umgebung. Eine fiese Wurzel bei der Landung kann genau so ausbremsen wie der hundertste Versuch, einen Griff anzuspringen, obwohl der Körper davon abgeraten hat. Wir müssen also unsere Aufmerksamkeit nach außen wie nach innen richten, eine Konzentrationsleistung wie sie auch bei Formen der Meditation statt findet. Diese Konzentration, kombiniert mit den vom Körper ausgeschütteten Glückshormonen, führt zu einem Zustand des „flow“, für den es keine umgangssprachliche deutsche Entsprechung gibt (wir Deutschen tun uns mit den kleinen Abenteuern eben schwer…). Mit diesem Zustand verhält es sich wie mit vielen anderen Aspekten unseres Lebens: Je mehr wir investieren (nicht nur quantitativ!), desto mehr bekommen wir auch heraus!


Man könnte Bouldern sogar als „Kung Fu Vertikal“ bezeichnen: Der Begriff bedeutet auf chinesisch „Etwas durch harte und geduldige Arbeit Erreichtes“. Das gilt nicht nur für Kampfkunst, sondern für alle Tätigkeiten, denen wir uns widmen. Kung Fu ist das Unterfangen, uns durch ständiges Bemühen zu vervollkommnen. Was immer wir auch tun, stets kommt in unserem Tun unsere innere Verfassung zum Ausdruck. Wenn wir unser Handeln vervollkommnen, vervollkommnen wir uns selbst. 


Text: Udo Neumann


Den kompletten Artikel lesen Sie in der aktuellen Ausgabe von DAV Panorama