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Durch die Rieserfernergruppe

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Von Andi Dick

 

Langsam sinkt der kindskopfgroße Stein nach unten, zieht über die ausgebleichte Schnur das Holzgatter zu, schließt die grünen Wiesen des Antholzer Tals aus – vor mir öffnet sich die Welt des Hochgebirges. Ein Bach rauscht im lichten Lärchenwald, darüber schießt eine Plattenwand aus dunkelgrauem Gneis in den Himmel. Willkommen in der Rieserfernergruppe! Wer sie nicht kennt, braucht sich nicht wirklich zu schämen. Versteckt liegt sie zwischen den Ausläufern der Zillertaler und dem stillen Defereggental, zwischen Tirol und Südtirol, als westlichster Zipfel der Hohen Tauern; südlich begrenzt vom Pustertal. Gipfelnamen wie Lenkstein, Magerstein, Schneebiger Nock wecken keine Bedürfnisse, einzig der Hochgall genießt einen gewissen Ruf. So bleibt die Region eher ein Ziel für Kenner und Liebhaber – was gewiss nicht schaden kann. Eine Rundtour mit den schönsten Gipfeln soll ihre Geheimnisse offenbaren. Hellblaue Himmelsherold-Büschel, gelbe Gamswurz-Sterne, rote Lichtnelken leuchten in der Wiese, die Sonne heizt kräftig im steilen Hang, der hinaufführt zum Gemsbichljoch.

 

Dann gehen die Weiden in Geblöck über, das Tal versinkt in der Tiefe. Silbern ausgebleichte Holzstufen führen wie eine Himmelstreppe über den letzten Felsaufschwung hinauf, dann ist die Rieserfernerhütte erreicht. Ein schnuckeliges Steinhaus, holzgetäfelte Stube, grüner Kachelofen, an der Wand hängt eine Gitarre. Im kleinen See unterhalb der Hütte schwimmen Eisberge vom schneereichen Winter, am Horizont posieren die Gipfel der nordöstlichen Dolomiten: Pragser Wildkofel, Cristallo, Drei Zinnen. Wer früh dran ist, kann noch auf die Schwarze Wand steigen, den ersten Wanderdreitausender der Runde – es scheint aber auch legitim, nach 1400 Höhenmetern mit einem Apfelstrudel den Tag gut sein zu lassen. Auf der nächsten Etappe lassen sich fünf Dreitausendergipfel sammeln – und alles läuft als (schwarzer) Wanderweg. Was hier freilich eine gewisse Mühsal bedeutet: Gemütlich Schlendern ist nur auf Teilen der gesamten Rieserferner-Rundtour angesagt, häufig führen die markierten Pfade durch rotbraunes Geblöck, das solides Hinsteigen fordert. Die Einsamkeit hat durchaus Gründe…

 

Schneebiger-Nock-Antholz
Luftige Klettersteigpassage zum Schneebigen Nock über dem Antholzer Tal, Foto: Andi Dick

 

Aber fleißige Heinzelmännchen haben die Schotterflanke zum Fernerköpfl durch Steinstufen gehfreundlicher gestaltet. Es sind nicht allzu viele Höhenmeter von der Rieserfernerhütte, die schon auf 2791 Metern liegt, hinauf zum Kamm; da kann man ein bisschen Gipfel sammeln gehen. Einen groben Blockgrat hinunter, vielleicht noch aufs Frauenköpfl, dann jedenfalls auf dem Westlichen Rieserferner gemütlich hinüber zum Magerstein, hoch über der grünen Furche des Antholzer Tals. Tageshöhepunkt ist der Schneebige Nock, der Gipfel mit dem ungewöhnlichen Namen, der doch nur „verschneite Kuppe“ bedeutet. Auch geologisch ist er eine Besonderheit: Er besteht aus altem Gneis, während die Nachbarn Magerstein und Hochgall aus jüngeren, granitähnlichen Plutoniten bestehen, die hier vor 30 Millionen Jahren an die Erdoberfläche gestiegen sind. Schön zum Klettern sind beide Gesteine: Am Schneebigen Nock führt der Weg über einen steilen Gratturm hinauf. Ketten machen daraus einen leichten Klettersteig; wer es „natürlich“ mag, findet auch gute Griffe. Danach geht’s leichter zum letzten Panoramapunkt des Tages: Im Osten grüßt der Glockner, davor die Pyramide des Hochgall, der weiße Kamm der Zillertaler, im Süden die grauen Dolomitenzacken.

 

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Auf dem Weg zur Kasseler Hütte sind einige wilde Bäche zu überqueren, Foto: Andi Dick

 

Felsig ist auch das Bergab, rote Punkte leiten durch ein Layrinth kleiner Steilstufen, einmal hilft ein Drahtseil, eine kurze 30-Grad-Schneepassage könnte in warmen Spätsommern bei Blankeis unangenehm werden, ist aber noch griffig. Heiß drückt der Sommertag, Schmelzwasserbäche rauschen über die Gletscherschliffplatten und stillen den Durst – wer die Zeit hat, sollte unten im Wiesengelände nach links abbiegen zum Malersee. Der flache Teich mit dem dunklen Moorgrund hat sich auf richtig gemütliche Temperaturen aufgeheizt, an seinem Ufer lässt sich der Nachmittag romantisch verbummeln, bevor es hinübergeht zur Kasseler Hütte. Ihr heutiger Name Rifugio Roma kündet von der Geschichte vieler Hütten auf Südtiroler Gebiet. Die Rieserfernerhütte, Ausgangspunkt des Tages, wurde von der DAV-Sektion Fürth gebaut und nach dem Ersten Weltkrieg 1922 enteignet, ging an die AVS-Sektionen Bozen und Bruneck. Die Hochgallhütte, wie das Rifugio Roma auch heißt, entstand 1895 auf Initiative der DAV-Sektion Kassel und fiel 1926 an die Sektion Rom des italienischen Alpenvereins CAI.

 

Kasseler-Huette
Kasseler Hütte alias Rifugio Roma, Foto: Andi Dick
Die nette Wirtin Silvia spricht gleichermaßen fließend deutsch wie italienisch, romanisch geprägt ist das Abendessen: würzige Rigatoni, Salat mit Tomaten, Grillspieß mit Bratkartoffeln – und zum Dessert tatsächlich ein Stück Sachertorte. Auch bei der Kasseler Hütte gibt es einen See, ein kleines Stück oberhalb, in dem sich der abendrote Hochgall spiegelt; zum Baden allerdings braucht es hier Biss. Stattdessen sitze ich mit einem Glas Vernatsch in den Grashängen; mein Tischnachbar erzählt, dass er seit zig Jahren ins Ahrntal-Gebiet kommt und sich heuer zur Rente einen dreiwöchigen Urlaub mit Umwanderung der gesamten Talschaft geschenkt hat, die unter uns im Dämmerlicht versinkt. Eine Landschaft, in die man sich verlieben kann. Der nächste Tag ist dem Hochgall gewidmet, dem höchsten und bekanntesten Gipfel der Gruppe. Ein veritabler Alpinbrocken, das beweist schon die Weckzeit um halb Fünf. Im ersten Licht geht es auf dem Wanderweg dahin, dann Steinmännern folgend durch den felsdurchsetzten Hang zu den Sanderböden unter dem Östlichen Rieserferner. Nur noch kümmerliche Reste sind übrig von der Gletscherfläche, die sich einst bis zum Schneebigen Nock hinüber erstreckte, heute aber durch den Nordkamm des Magersteins zweigeteilt ist.

 

Mit „Giganti“, wie im Zuge der Italianisierung der Rieserferner dilettantisch übersetzt wurde, hat der Name nichts zu tun: Er stammt vom Dialektwort „Riser“, das Landschaften mit Steilhängen und -rinnen bezeichnet, durch die Steine herunterpoltern oder Holz getrieben wird. Beim Aufstieg zum Grauen Nöckl könnten durchaus Steine fallen; sorgfältiges Gehen auf den schwachen Pfadspuren ist angesagt im steilen Geblöck – bis dann endlich kompakter Fels zum Klettern lädt. Vom schmalen Gipfel des Grauen Nöckl (der erste Dreitausender für heute) geht es ausgesetzt und steil in eine Scharte hinunter, ein paar Drahtseile helfen dabei, dann pfeift der Nordwestgrat des Hochgall mit frechem Schwung in den Himmel. Unnahbar – aber wie geschaffen zum Klettern. Hautfreundlich glatt, herrlich schuppig strukturiert ist der silbergraue „Rieserfernergranit“, ein pures Vergnügen. Zwei steile Stellen knapp vor dem Gipfel tragen Drahtseile, lassen sich aber auch dank prächtiger Risse im guten dritten Grad frei erklettern.

 

Aufstieg-zum-Hochgall
Beim Aufstieg zum Hochgall fasziniert der Bliclk auf Rieserferner und Schneebigen Nock

 

Man folgt hier übrigens den Spuren der Alpenvereinsgründer: Karl Hofmann bestieg 1868 den Hochgall erstmals über den Nordwestgrat, die gesamte Route übers Graue Nöckl erschloss Johann Stüdl 1871. Der Gipfelblick ist eine Schau. Die Rieserfernergruppe liegt separiert zwischen Zillertalern, Tauern und Dolomiten, der Hochgall ist ihr höchster Gipfel; entsprechend frei ist die Sicht nach allen Seiten. Wenn man dann noch das Glück hat, in der wärmsten Woche des Sommers unterwegs zu sein und im T-Shirt auf 3436 Metern zu sitzen, mag man gar nicht mehr weg … irgendwann muss es doch sein. Die rund 30 Bergsteiger, die heraufkommen, erscheinen als verblüffend viele. Was freilich relativ ist; am Matterhorn drängeln sich an einem solchen Prachttag wahrscheinlich zehnmal so viele.

 

Blumen-Rieserfernergruppe
Blumen am Wegesrand, Foto: Andi Dick
Viele Einheimische sind darunter, die den Hochgall als (lange) Tagestour aus dem Tal gehen – einen so markanten Dreitausender ohne Steigeisen bekommt man nicht oft geboten. Fast schade drum, denn die nette Kasseler Hütte verdient auch eine zweite Übernachtung, die Verpflegung und eine reichhaltige Literaturauswahl lassen keine Langeweile aufkommen. Auch die nächste Etappe führt über einen Dreitausender: Die Überschreitung des Lenksteins ist die logischste Verbindung zur Barmer Hütte, die schon auf Tiroler Seite des Gebiets liegt. Zuerst wandert man recht gemütlich auf dem Arthur-Hartdegen-Weg (benannt nach dem früheren Vorsitzenden der DuOeAVSektion Kassel) quasi den Höhenlinien entlang über die Gletscherschliffe und Abflussbäche des Rieserferners, quert unter dem Riesernock luftig die felsdurchsetzte Flanke und erreicht die Brücke über den schäumenden Ursprungbach. In blütenbunten Wiesen leuchten kleine Tümpel – ein herrlicher Picknickplatz vor dem langen Anstieg.

 

Voll der Sonne ausgesetzt schlängelt sich der geschickt angelegte Weg die Geröllhalden hinauf, die Zunge klebt am Gaumen. Doch jeder Weg endet irgendwann; ein blockiger Grat mit ein paar leichten Kraxelstellen führt hinauf zum Lenkstein – ohne Hemd sitze ich in der Sonne und schaue wie aus dem Flugzeug hinunter auf einen blauen See, in dem Firn-Eisberge schwimmen: ein geradezu arktischer Anblick. Auch der Abstieg über die Rosshornscharte (wer mag, gibt sich mit dem Fenner Eck noch einen kleinen Dreitausender extra) führt durch felsig-alpines Gelände, ganz schön wild für einen Wanderweg. Unter der Scharte ziehen etwas bejahrte Drahtseile in und durch eine gruslige Rinne, dann geht es in steilen Serpentinen hinunter auf die großblockigen Schuttfelder, die hinüber ziehen zu den Ruinen der Alten Barmer Hütte; der Bau aus dem Jahr 1900 wurde 1956 von einer Lawine zerstört. Das neue Haus steht geschützter etwas weiter oben, der grüne Kachelofen wärmt den gemütlichen Gastraum, als es abends kühler wird.

 

 

Barmer-Huette
Barmer Hütte, Foto: Andi Dick
Doch das freundliche Haus und seine netten Wirtsleute werden trotzdem so selten besucht wie kaum eine andere Hütte des DAV: Nur zwei Tschechen genießen am Nebentisch das tirolerische Menü mit Kasspressknödelsuppe, Kasspatzen mit Krautsalat und Aprikosen- Quark-Kuchen. Zwei weitere Paare sind angemeldet an diesem vielleicht besten Wochenende des Sommers, erscheinen aber nicht, obwohl Barbara und Detlef bis in die Nacht auf sie warten. Es braucht schon viel Motivation für den Beruf des Hüttenwirts auf so einem Standort. Dabei kann man hier noch Wildnis- Einsamkeit erleben und viele schöne Touren machen. Schließlich hatte Professor Ludwig Fenner, langjähriger Hüttenwart und Namensgeber des Fenner Ecks, schon 1912 geschrieben: „Jeder kann dort auf seine Rechnung kommen, der verwöhnteste Hochtourist, der wackere Jochkraxler und der bescheidene Talschleicher!“ Der Anstieg zum Hochgall durch eine gut 40 Grad steile Firnrinne und über einen schönen Granitgrat (III-) ist etwas schwieriger, aber entsprechend reizvoller als der Normalweg von Norden, später im Sommer heißt es hier allerdings auf Vereisung und Steinschlag achten. Ein netter Schlusspunkt für die Runde ist die Große Ohrenspitze (3104 m).

 

Ein paar Meter geht es auf dem Weg zu Jägerscharte und Almerhorn durch grobes Geblöck, dann weisen die Buchstaben „RS“ auf einem Stein auf den Abzweig zur Remscheider Scharte hin; einsames Urgelände, durch Schutt- und Firnfelder geht es hinauf. Der Nordwestgrat zur Großen Ohrenspitze wurde mit ein paar Drahtseilen gezähmt, lässt sich aber dank hübscher Risse auch frei klettern. Vom Gipfel sieht man bis in die Julischen Alpen, frontal auf den mächtigen Hochgall – und über die höchste Felsflanke des Gebiets hinunter ins Antholzer Tal. Auch wer auf diese Dreingabe verzichtet, bekommt einen Gipfel ab: Von der Jägerscharte führt ein guter Weg aufs Almerhorn, dem nur 14 Meter zu den magischen 3000 fehlen. Nur noch knapp zwei Stunden sind es von hier hinunter zum Staller Sattel, von dem die Straße zurück zum Ausgangspunkt und zu den Segnungen der Zivilisation führt. Doch zuvor lädt der romantische Obersee dazu ein, sich im klaren Bergwasser treiben zu lassen und den Schweiß von der Haut zu spülen – die Erinnerung an reiche Tage in der Wildnis wird nicht so leicht aus dem Gedächtnis schwinden.

 

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