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„Je älter ich werde, desto lieber komme ich wieder heim.“

Leidenschaft Eisklettern: An den Renkfällen
Leidenschaft Eisklettern: An den Renkfällen
Die neue Deuter-Firmenzentrale: Eine große Lagerhalle, mit hellem Holz verkleidet, ein Büroturm aus Glas und Stahl: Innen ist es hell, alle Büros liegen am Fenster, die innere Fläche dient der Begegnung, die begrünte Dachterrasse der Cafeteria erinnnert an nordische Tundra im Indian Summer.

Man kommt nicht schnell voran mit Bernd Kullmann: Alle 85 Kollegen kennt er beim Namen, mit den meisten ist er per Du, da müssen bei jeder Begegnung schnell ein paar Worte gewechselt werden: zum aktuellen Projekt, übers Familienleben oder ein flapsiger Spruch. Dann sitzen wir in seinem Büro, das die gleiche Größe hat wie alle anderen, und reden über seinen Werdegang vom bergbegeisterten Chaotenschüler bis zum „Brand Ambassador“.

 

Die Rente droht – kannst du „deine“ Firma Deuter loslassen?

Schwer. Aber ich hatte schon ein Jahr lang Zeit zum „Rausrutschen“. Nachdem ich die Geschäftsführung von Deuter abgegeben und mich „nur“ noch auf die Schwan Stabilo Outdoor Group beschränkt hatte, waren es nicht mehr 120 Prozent. Vorher waren alle Tage vollgepackt, jetzt plötzlich wurde es deutlich ruhiger, das fiel mir schwer. Aber ich wollte meinem Nachfolger bei Deuter auch nicht als Schatten hintendran stehen.

Als Deuter-Geschäftsführer war ich in der Branche mittendrin, die Schwan Stabilo Outdoor Group ist weniger bekannt und präsent. Aber als Markenbotschafter für Deuter kann es wieder netter werden, die Aufgabe ist mir auf den Leib geschnitten, back to the roots, Schulungen mit Bergführern und Händlern; das habe ich früher oft gemacht und es macht mir wahnsinnig viel Spaß: Leute begeistern, Wissen vermitteln.

 

Bei dir kommen ja einige Veränderungen zusammen: Gleichzeitig sind die Kinder aus dem Haus und die Vollzeit-Arbeit zu Ende – wie fühlt sich das an?

Unsere Tochter Julia ist schon seit einiger Zeit zum Studium weggezogen. Ich freue mich immer, wenn ich sie sehe. Moritz wird auch irgendwann gehen, aber schon jetzt sehen wir uns selten; manchmal gehen wir gemeinsam zusammen auf den Fußballplatz. Generell ist mir die gemeinsame Zeit sehr wichtig.

Jedenfalls ist es jetzt ruhiger im Haus. Ich lese gern, derzeit die Biographie von Willy Brandt mit 900 Seiten. Das sind Zeiten, die ich erlebt habe, aufbereitet von schlauen Leuten. Die ganz großen politischen Persönlicheiten der 1970er Jahre haben mich geprägt. Das waren Menschen mit Charisma; solche Hochkaräter sehe ich heute nicht mehr in der Politik.

 

Wenn man früher mit dir im Auto gefahren ist, gab es immer Vollgas und Ärger über lahme Fahrer: Bist du auch da heute gelassener?

Ich bin ruhiger geworden. Unter 200 gings nie auf der Autobahn, jetzt hat neulich ein Mitfahrer gesagt: Du schaust ja plötzlich auf den Benzinverbrauch. Früher habe ich den Druck aus dem Job auch als Ärger rausgelassen, jetzt ist mehr Gelassenheit da. Aber ich habe immer Adrenalin im Blut gebraucht, auch im Job, nicht nur beim Bergsteigen.

Ausschlafen zum Beispiel kann ich gar nicht; ich wache einfach um halb sieben auf. Ich werde sicher neue Dinge machen, vielleicht wieder mit Angeln anfangen. Einiges habe ich auch vernachlässigt: diversen Papierkram zuhause, die Hausverwaltung des Elternhauses, unsere Terrasse fliesen, den Gartenzaun streichen. Aber das alles kann den Beruf nicht ersetzen; der war für mich ein ganz wichtier Lebensinhalt.

 

Freude am Fels: „Im Schatten der Sphinx“ (VIII-), Karwendel
Freude am Fels: „Im Schatten der Sphinx“ (VIII-), Karwendel

 

Deine Devise war immer, in den drei Bereichen Sport, Beruf, Familie gleich gut zu sein: Was bedeutet das? Und wie schaffst du das?

Ich bin sehr diszipliniert in der Zeiteinteilung. Wenn mich was interessiert hat, konnte ich sehr hart rangehen und sehr konzentriert dranbleiben. So habe ich auch meine Arbeitszeit unkonventionell gestaltet: Wenn es am Wochenende geregnet hat, bin ich einfach ins Büro gegangen.

Auch fürs Bergsteigen habe ich diese Konzentriertheit genutzt: Wenn auf dem Flug nach Asien ein fünfstündiger Stopp in Hongkong dabei war, bin ich für eineinhalb Stunden zum Jümarn in einen dortigen Klettergarten gefahren. Nach Vietnam habe ich den Trainingsbalken mitgenommen und mit Schraubzwingen am Türstock des Hotelzimmers befestigt.

Mein Beruf brachte viele Begegnungen mit spannenden Menschen, oft wurden aus Geschäftsbeziehungen Partnerschaften oder gar Freundschaften. Es hat mir Spaß gemacht, mit solchen Menschen bei einer Flasche Wein mehr zu diskutieren als nur die neuesten Kollektionen. Auch damit wird aber irgendwann ein Ende sein. Aber vielleicht geht man mit einigen noch Bergsteigen.

 

Was bedeutet für dich Führung im Beruf? Welche Chef-Kultur lebst du?

Ich glaube an den offenen Führungsstil. Einst habe ich bei Deuter Gleitzeit eingeführt. Der damalige Chef hat mich fragt: Wie willst du das kontrollieren? Und ich habe gesagt: Wenn ich meine Leute kontrollieren muss, dann hab ich die falschen Mitarbeiter.

Ich bin überzeugt davon, dass Menschen in der Regel reif und ehrlich genug sind, um mit langer Leine umzugehen. Hin und wieder gehört auch Kontrolle dazu. Aber ich will den Mitarbeitern ein Umfeld schaffen, in dem sie sich nach ihren Anlagen und Fähigkeiten optimal entwickeln können. Dafür gebe ich ihnen auch Vertrauen und Rückendeckung, wenns mal Probleme mit Kunden gibt. Andererseits muss man auch mal Dinge tun, die keinen Spaß machen. Ein reiner Schmusekurs funktioniert nicht auf Dauer.

Bei der Einstellung neuer Leute entscheidet für mich die sachlich-fachliche Qualifikation nur zu 50 Prozent, zu 50 Prozent aber die Frage, ob er ins Team passt – sonst macht’s keinen Sinn. Jede Firma hat ihre eigene DNA, ihren Spirit. Um den zu erhalten, braucht’s die richtigen Menschen.

Aber diesen Spirit muss man auch vorleben, nicht um drei Uhr zum Golfen abhauen oder Business Class fliegen. Vorbild zu sein halte ich für sehr wichtig. Wenn ich mir diese politischen Skandale anschaue, das ist zum Kotzen, dass ein Klaus Zumwinkel Steuern hinterzieht; auch der Fall Hoeness ist völlig undenkbar für mich. Eine moralisch-ethische Kultur gehört auch – oder vor allem – in Chefetagen dazu.

Ein gutes Lebensmotto ist für mich, andere sowenig wie möglich zu behindern. Schnellere vorbeilassen, beim Autofahren wie beim Klettern. Auf Skitour geht heute kaum noch einer aus der Spur, wenn ein Schnellerer von hinten kommt – schade!

Auch Demut ist ein wichtiger Begriff beim Bergsteigen – mit Arroganz würde ich in Sachen einsteigen, denen ich nicht gewachsen bin. Ich habe auch deswegen überlebt, weil ich bei der Auswahl meiner Ziele immer defensiv, zurückhaltend geblieben bin, mit Reserve zu meinen Grenzen. Das hat sich im Alter verstärkt. Früher sind wir voll reingesteigen in den Walkerpfeiler, erst langsam hat sich das gemäßigt.

Im Beruf hatte ich gelegentlich Angebote, die mir zu groß gewesen wären. Ich habe nur Aufgaben angenommen, die ich leisten konnte, und auch mein Aufstieg bei Deuter lief langsam: Vertreter, Produktmanager, Verkaufsleiter, Prokurist, Geschäftsführer. Jeder Schritt nach oben bedeutete zuerst eine Verunsicherungsphase, nach zwei Jahren ging’s dann besser.

Wenn ich Angebote von anderen Marken bekam, habe ich immer überlegt, ob ich es geschafft hätte, den Erfolg und Spaß von hier auch woanders zu haben. Mir ging es nicht um Titel, sondern um Verwirklichung. Hier konnte ich mein eigenes Team aufbauen, die Produkte und Vertriebspolitik so gestalten, wie ich es für richtig hielt.

 

Woher kommt dein beruflicher Erfolg – also der für die Firma Deuter?

Durst löschen: am Lafeldkopf an der Loferer Alm
Durst löschen: am Lafeldkopf an der Loferer Alm
Die Hälfte war Glück: zum rechten Zeitpunkt die richtigen Leute zu treffen. Zum Beispiel „SH“, den Chef unseres Produktionspartners Duke, meinen Mentor im Rucksackbau; von ihm habe ich viel gelernt.

Gut war auch, dass mich mein Chef Michael Franke 17 Jahre ertragen hat; das war für ihn sicher nicht immer leicht, denn ich habe meine Standpunkte konsequent und emotional vertreten. Damit hatte er Mühe, aber hat erkannt, dass wir gemeinsam den Laden gut schmeißen können, mit mir als Frontmann und ihm als kaufmännischem Leiter, jeder nach seiner Neigung und Talent. Ein anderer hätte mich rausgeworfen, weil ich ein ewiger Motzer und Stänkerer bin. Wir haben oft gestritten. Und dabei bin ich manchmal sehr hart, auch wenn‘s mir immer nur um die Sache ging.

Ein weiteres Glückselement war, Mitarbeiter zu finden, die super gepasst haben. Sie waren loyal, wir hatten eine ganz offene Streitkultur, ohne dass jemand beleidigt war. Aus Konfrontation entstand immer was Gutes. Diese Partnerschaften kamen oft übers Netzwerk aus Kletterspezln. Ich hab immer einen gekannt, den ich anrufen konnte. Es gibt schließlich auch positive Seilschaften. Und an diesen Kollegen zeigt sich: Den Erfolg der Firma machen die Menschen.

 

Das liest man in jedem Unternehmensleitbild; nicht immer wird es gelebt…

Ich habe es gelebt, auch immer lange Leine gelassen. Ein oder zwei Fälle haben mich enttäuscht, aber 60 bis 80 haben funktionert.

 

Wie schaffst Du es, im beruflichen Gegenüber den Menschen zu sehen und nicht nur den Geschäftspartner?

Ehrlichkeit war mir im Beruf immens wichtig. Als Verkäufer muss ich dem Kunden sagen können: Das würde ich dir nicht empfehlen. Man muss eine dauerhafte, ehrliche Geschäftsbeziehung aufbauen. Das habe ich von meinen Eltern gelernt: Mein Vater war im Badenwerk Prokurist; dort hab ich viel gejobbt als Schüler und hab ihn am Rand miterlebt. Die Leute haben respektvoll über ihn gesprochen, sogar für die Kollegen aus der Putzkolonne hat er sich Zeit genommen und fünf Minuten mit ihnen geredet. Er hätte mit 62 in Rente gehen können – aber die Firma sollte zugemacht werden und er wollte zuerst die Angestellten in anderen Jobs unterbringen. Ehrlichkeit war ein ganz hohes Gut in unserer Familie.

Ich war immer ein Bad Guy in der Schule und er war Elternvertreter, auch da war er super tolerant. Er war Spitzenleichtathlet gewesen, hat aber meine Entscheidung fürs Klettern voll akzeptiert.

 

Welche Verantwortung hat man als Geschäftsführer – sozial, ökologisch, ökonomisch?

Ein Unternehmenschef sollte am besten wissen was gut ist für den Betrieb. Aber wenn man alle drei Jahre in einen neuen Job wechselt, ist das schwer. Familienbetriebe sind oft gut geführt. Gefährlich für den Unternehmenserfolg sind externe Karrieretypen, die nur ein Sprungbrett suchen. Und wer externe Berater einsetzt, zeigt nur, dass er selbst nicht in der Lage ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

In Deutschland gibt es einen super Mittelstand mit sehr guten Managern. Was Ferdinand Piech als Visionär mit VW gemacht hat, ist genial. Aber es stellt sich die Frage: Wo ist der nächste Piech? Das ist ein Ingenieur, nicht irgendein Jurist. Er kommt aus der Branche.

Das ist meine Sorge für die Outdoor-Branche: Die Leute machen wahnsinnig schnell Karriere, erreichen das Ende ihrer Möglichkeiten, machen Produkte, haben aber keine Ahnung davon. Das ist dann, wie wenn bei BMW jemand ohne Führerschein entscheiden würde. Wer ein Outdoor-Unternehmen führt, muss Freude am Outdoorsport haben.

Wir verkaufen auch Emotionen, die Emotion muss in der Firma gelebt werden: Von ganz oben nach unten. Ein tolles Beispiel ist für mich Rolf Schmid bei Mammut, der als Manager anfing und zum Bergsteiger wurde. Oder Antje von Dewitz: Sie hat als begeisterte Outdoorfrau die Marke Vaude neu aufgestellt und positioniert.

Die Begeisterung, die in einer Firma ist, muss transferiert werden in den Handel, der Händler muss es dann weitertragen. Dazu müssen die Infoträger sich treffen und austauschen. Bei uns muss jeder Mitarbeiter einmal im Jahr ein, zwei Tage anonym in den Verkauf bei einem Bergsportladen. Nirgends lernst du mehr über deine Produkte und die Bedürfnisse der Endverbraucher. Ich selber habe letzten Samstag einen vollen Tag lang bei Sport Scheck verkauft; mir hat das Riesenspaß gemacht: dem Kunden ein Produkt zu verkaufen, mit dem er glücklich wird, egal welche Marke.

 

Überraschung: Wasserfund beim Eisklettern in Elm
Überraschung: Wasserfund beim Eisklettern in Elm

 

Deuter lässt auch in Asien nähen – warum? Welche Rolle spielen dabei soziale Fragen?

Wir haben in Asien sehr bald mit „SH“ zusammengearbeitet; den Spitznamen hat er selber vorgeschlagen, weil sein Vorname so unaussprechlich sei – und er wurde mir zum echten Freund. Schon als Lehrer ging es mir darum, anständig mit Menschen umzugehen, geprägt von meiner Sozialisierung. Und ich kann als Fazit sagen: Ich habe in Asien nie grässliche Zustände angetroffen. Am Anfang, in den 1980er/90er Jahren, wurden viele Überstunden gemacht, die Bezahlung war schlecht, es gab keine Sozialleistungen. An dem Thema hab ich von Anfang an gearbeitet – richtig möglich wurde es erst durch die enge Zusammenarbeit mit SH in exklusiver Partnerschaft, zu der sich beide Seiten verpflichtet hatten. Dadurch konnten wir Einfluss nehmen. Ich habe immer auf einen anständigen, ordentlichen Umgang mit den Menschen gedrängt. Dadurch sind die Mitarbeiter auch sehr lange geblieben.

So waren wir schon gut aufgestellt, als das Thema in die Öffentlichkeit kam. Trotzdem sind wir damals zur Fair Wear Foundation (FWF) gegangen, denn einem Unternehmen glaubt man ja nicht. Die sieben Grundsätze der FWF waren für uns eh klar. In Korea und Vietnam habe ich nie Kinderarbeit gesehen. Die Löhne wurden nochmal angehoben, schon vorher hatten wir Versicherung und Krankenschutz etabliert. So ging die Auditierung in einem Jahr über die Bühne.

Aber es ist ja so: Die Menschen haben Familie, machen einen tollen Job für uns, dann sollen sie auch davon leben können.

 

Wie steht es um die selbst behauptete „Nachhaltigkeit“ der Outdoor-Industrie?

In Outdoorbranche sind lange nette Marketinggeschichten erzählt worden. Das beste sind langlebige Produkte. Ich habe viele Patagonia-Klamotten, die schon seit Jahren halten. Deuter ist bekannt für langlebige Produkte, gute Verarbeitung und solide Materialien – was nicht ganz leicht ist. Die Reklamationsquote liegt bei 0,3 Prozent, und wir bieten einen Reparaturservice, der nicht mal Kosten deckt.

Wir haben aber auch immer mehr gemacht als die gesetzlichen Anforderungen. Unser neues Gebäude hat Geothermie, also Heizung und Kühlung über einen Grundwasser-Brunnen, dazu ergänzend eine Gasheizung, aber keine Klimaanlage. Für den Bau mussten wir uns auf Spezialisten verlassen; sie waren gute Ratgeber.

Zum Thema Schadstoffe nehmen wir auch gerne Anregungen auf: Wir waren früh Bluesign-Mitglied, Duke als einer der ersten asiatischen Hersteller. Patagonia und Vaude haben uns da inspiriert und beeindruckt.

Aber eigentlich musst du nur gut zuhören, was Verbraucher, Kletterspezln, Bergführer wollen. Dann machst du Produkte, die lange gerne benutzt werden.

 

Wie kamst Du überhaupt zum Bergsport?

Mein Großvater väterlicherseits war Bergsteiger, meine Eltern nicht. Als ich sechs war, haben sie versprochen, im Urlaub mit dem VW Käfer ans Meer zu fahren – aber wir sind in Südtirol hängengeblieben, in Völs unterm Schlern, und haben dort ein paar Touren gemacht. Als ich die Berge gesehen habe, dachte ich: wow, das sieht ja geil aus. Dann sind wir immer in den Ferien dorthin gefahren, Einheimische haben mich mal mitgenommen auf eine Wanderung zum Schlern,

Im Jahr darauf, ich war 12, haben wir bei einer Wanderung um den Rosengarten eine Dreierseilschaft in der Delagokante an den Vajoletttürmen gesehen – und ich dachte: Das muss ja der Hammer sein. Auf der Hütte haben wir sie dannn getroffen, und ich war sehr beeindruckt, dass auch eine Frau dabei war. Nächstes Jahr sind wir wieder gekommen und ich bin auch auf den Kesselkogel gestiegen. Dann habe ich bei meinen Eltern gebohrt, dass sie mich zum Alpenverein gehen lassen. Meine Mutter hatte Angst davor, weil ich schon beim Kirschenklauen immer am höchsten auf die Bäume gestiegen bin.

1968 kam ich dann zum Alpenverein, die ersten Touren sind mir sehr leicht gefallen. Der Jugendleiter hat mich und noch einen anderen talentierten Jungen weitervermittelt an die Jungmannschaft; dort habe ich mit meinem großen Mentor Fritz Diem die ersten Vierertouren gemacht. Dann bin ich im Einstiegsriss der „Ottowand“ (V) am Battert rausgeflogen und zum erstenmal demütig geworden. In dem Jahr war ich fünf mal am Battert.

Im Jahr drauf, ich war 15, kam ein Anruf von Fritz, ob ich regelmäßiger mit ihm an den Battert wolle; wir haben miteinander alle Touren gemacht, sogar das Raucherwandel (mit VI+ damals die schwerste Tour im Gebiet) – und ich bin alles gut hinterhergekommen. Fritz ging in dem Jahr mit einem Partner in die Dolomiten, ich hatte keinen Partner und konnte nur mit zum Familienurlaub. Aber meine Schwester war auch dabei und wir hatten ein Seil. Dann haben wir unsere Eltern gefragt, ob wir auf den Dritten Sellaturm dürfen (wir waren im Vorjahr mit Einheimischen oben): Sie haben es tatsächlich erlaubt, wir sind hochgestiegen und runter, dann haben wir noch die Fünffingerspitz-Überschreitung gemacht.

Nächstes Jahr war ich in der Battertclique akzeptiert, mein Vater hat mich immer mit dem Auto hingefahren, und ich habe meine Kumpels Norbert Sialkowski, Erhard Prokop und Gerold Thomas kennengelernt.

 

Mit Gerold Thomas habt ihr super schnell die klassischen Alpintouren abgezockt – wie lief das?

Aufwärts: Im Tal von Freissinières (Dauphiné)
Aufwärts: Im Tal von Freissinières (Dauphiné)
Ich war 17, Gerold 15, wir waren schnell eine Seilschaft. Aber es gab auch andere: Mit Roman Koch habe ich mich mal getroffen, als ich mit der Familie in Dolomitenurlaub war, und wir sind die Solda an der Marmolada geklettert, an der Rotwand die Hasse-Brandler und die Eisenstecken. Das war der Durchbruch. Die Battertkumpels waren beeindruckt, und ich hab leicht Partner gefunden. Ich hatte immer Zeit, auch unter der Woche, weil wir wegen eines Reform-Schulversuchs unsere Entschuldigungen selber schreiben durften. So hab ich immer die Schule geschwänzt – und diese Klasse denn auch wiederholt.

Mit 18 ging’s in die Dolomiten und in die Schweiz, die Touren aus dem „extremen Pause“ abklappern, etwa die Carlesso am Torre Trieste. Im Herbst habe ich meinen ersten Käfer gekauft, für 600 Mark, und Gerold und ich waren mobil und selbständig. Mit Roman Koch war ich immer im Überschlag geklettert, aber er war für mich noch ein Mentor, so wie Fritz Diem mein wichtigster Lehrmeister war. Danach habe ich von Norbert Sialkowski und Erhard Prokop viel mitbekommen; Erhard hat uns 1973 als erste Eistour in die Großhorn-Nordwand mitgenommen, das war durchaus etwas vermessen. Erhard ist gleich überm Einstieg wegen seinen alten Steigeisen 150 Meter runtergerutscht und abgestiegen; wir gingen weiter. Und Gerold hat sich durch Steinschlag das Handgelenk gebrochen, so dass er für dieses Jahr als Partner ausgefallen ist. Aber 1974 sind wir zusammen nach Chamonix gefahren und haben viele gute Touren gemacht.

 

Gute Kletterpartner zu bekommen war nie ein Problem für Dich?

Ich hatte das Glück, immer mit guten Partnern unterwegs sein zu dürfen. Viel habe ich mit Günther Härter unternommen, während unserer gemeinsamen Zeit in der Bundeswehr. Sensationell war auch die Zeit mit Helmut Kiene: Er war ein Visionär, saugut in Fels und Eis, und wir hatten immer viel Spaß, ob beim Äpfelklauen in Südtirol oder beim Diskutieren – er war sehr anregend und einfach überall auf höchstem Niveau unterwegs.

In den letzten Jahren war ich viel unterwegs mit Freunden wie Konni, Martin Oswald oder Jürgen „Plum“ Knappe. Es ist immer ein Spaß, mit Leuten unterwegs zu sein, die auf Augenhöhe sind: gute Kletterer oder Bergführer. Da spüre ich keinen Verantwortungsdruck; mit einem jungen, weniger erfahrenen Partner musst Du letztlich alles Wichtige entscheiden. Das auf Augenhöhe auszudiskutieren tut gut. Und auch das Umdrehen fällt dann leichter.

So habe ich einen Fundus an Kumpels, mit denen ich gerne weggehe, weil die Chemie stimmt. Denn das wichtigste ist, eine gute Zeit miteinander zu verbringen. Von Ehrgeiz geprägte Zweckgemeinschaften finde ich nicht so schön.

 

Legendär wurde Deine Everestbesteigung in Jeans – wie kam’s dazu?

Ganz am Anfang habe ich noch mit Kniebundhose klettern gelernt. Dann aber hat sich der Dresscode geändert, die Jeans kamen auf in den 1970er Jahren. Meine Oma hat noch über die „Cowboyhosen“ geschimpft, die wir gerne mit Bundeswehrparka und langen Haaren kombinierten. Diesen Ausdruck gegen das verkrustete Establishment haben wir auch beim Bergsteigen gelebt. Als ich einmal mit Gerold auf der Gaudeamushütte ankam, wollte uns der Hüttenwirt nicht reinlassen. Denn wir hatten Schlaghosen an, Batikhemd, lange Haare und Sonnenbrille.

Selbstverständlich war ich auch am Walkerpfeiler und in der Eiger-Nordwand mit Jeans unterwegs – und es war völlig klar, dass das am Everest nicht anders sein musste. Dann lag ich krank auf Lager 2, Jeff Mazeaud hat mir Medikamente gegeben, und Hans Engl hat mich nach seinem Gipfelgang per Funk motiviert, es zu versuchen. Die lange Unterhose hatte ich vergessen, also bin ich in den Jeans in der Sonne bis zum Südcol gestiegen, für die Gipfeletappe habe ich mir dann eine Wärme-Überhose drübergezogen.

Ich hab mir null dabei gedacht, da sind noch andere mit Jeans rumgelaufen am Everest. Gemotzt hat keiner. Die Jeans habe ich übrigens während der ganzen Expedition jeden Tag angehabt und nie ausgezogen. Im Hotel in Kathmandu konnte ich sie dann in die Ecke stellen. Aber ich habe sie mit heim genommen, gewaschen und zwei Jahre lang noch an der Uni getragen. 1980 war sie in Peru beim Bergsteigen dabei, wegen Löchern in Knie habe ich sie dann einem Indio geschenkt.

 

Wie hast Du die Entwicklung zum siebten Grad miterlebt?

In Nachgang habe ich es als schade empfunden, dass ich nicht bei der Erstbegehung der Pumprisse dabei sein konnte. Hias Rebitsch hatte ja auch schon schwer geklettert, auch beim Bouldern und im Elbsandstein war der sechste Grad schon übertroffen worden. Helmut Kiene hatte als Visionär die Idee, die offizielle Skala mit ihrer Begrenzung bei VI+ zu sprengen, und nach unserem Dolomitenurlaub 1976 waren wir gut in Form und haben den Pfeiler geplant. Helmut war mit Immo Engelhard schon mal drin, ist aber rausgeflogen und sie haben abgeseilt. Unser Plan ist gescheitert an unsicherem Wetter und einem Oktoberfestbesuch, der aus dem Ruder lief. Danach sind wir am Battert das „Rechte Raucherwandl“ (heute VII+) im Toprope geklettert, haben uns aber nicht getraut, zu sagen, dass das ein Siebener ist.

Helmut kam im Februar 1977 mal wieder an Battert und ist das Rechte Raucherwandl nur knapp nicht raufgekommen. Abends haben wir dann diskutiert: Jetzt war er praktisch ohne Training nur knapp gescheitert, also muss es auch noch schwerer gehen. Wir hatten die Olympiasiegerin Nadja Comaneci turnen geseshen und Helmut hat gesagt: Wenn die Klettern würde… Der siebte Grad konnte einfach nicht das Ende sein. Helmut hat die Veröffentlichung im DAV-Heft eingefädelt. Er hatte den Mut, zu sagen: es ist so, es muss so sein, deshalb muss man es ansprechen. Ihm hat man auch zugehört.

 

Es gab ja einige Routen, von denen man gesagt hat, da wäre schon der siebte Grad geklettert worden, und du hast sie dann alle systematisch probegeklettert.

Ja, zum Beispiel den Stevia Nordriss – den bin ich zuerst nicht Rotpunkt geklettert, dann bin ich extra dafür nochmal hingefahren. Und hab VI+ dazu gesagt, aber damals war man noch strenger. Ivo Rabanser gibt in seinem Führer heute VII- an.

Die Geschichte hat mich interessiert, auch wenn die Routen als gruslig galten. Auch die Tissi an der Tofana di Rozes war so eine Legende – und natürlich Reinhold Messners Mittelpfeiler am Heiligkreuzkofel: Ich wollte gerne die legendäre VIII--Platte proieren, war nervlich super stark. Aber es steckte nur ein mittelprächtiger Haken, es gab noch keine Friends und war nicht abzusichern, oben war auch noch eine Schuppe abgeplatzt, so dass ich geglaubt habe, Reinhold hätte die Stelle damit geklettert. Wir haben dann die Umgehung geklettert und nicht an Messner geglaubt. Er hatte weiter unten in der Route einen Quergang technisch geklettert, der frei nur VII war, also leichter als die Platte – und die offensichtliche Mariacher-Umgehungsvariante hätte ihm auch auffallen müssen, mit seinem genialen Gespür für die machbare Linie. Er hat schon saugut geklettert, zum Beispiel eine schwere Variante zur Via dell’Ideale, aber zwischen VI+ und VIII- ist ein riesiger Unterschied.

 

Welche Bergsport-Disziplin macht dir am meisten Spaß? Warum?

Alpines Felsklettern ist das eleganteste. Du hast kaum Gepäck, bist leicht gekleidet, kannst sorgenfrei an die Grenze gehen oder drüber, und die Bewegung ist elegant. Im Winter mache ich am liebsten Skitouren.

Große Alpinsachen haben mir immer Spaß gemacht, aber in jüngerer Zeit in geringerer Dosis. Nicht mehr wie früher 10, 20 Nordwände pro Jahr. Da war immer Angst im Spiel, die Sorgen um Verhältnisse und Gefahren. So viele Dinge gab es zu bedenken, die ängstliche Nacht auf der Hütte hat gedrückt; vor großen Touren habe ich oft kaum geschlafen.

Mittlerweile hat das gesundheitliche Schicksal entschieden: Mit meiner Knie-Arthrose gehen lange Touren mit schwerem Rucksack nicht mehr. Das ist vielleicht nicht direkt eine Erlösung, aber schrecklich dramatisch ist es auch nicht. Ich geh schon nochmal mit in alpine Nordwände, aber nicht in die ganz großen Sachen.

 

Ans Licht: Ausstieg aus der Johannisberg-Westwand
Ans Licht: Ausstieg aus der Johannisberg-Westwand

 

Wie wichtig sind dir Anstrengung, Einsatz und Leiden am Berg? Wo findest du das beste Maß?

Einsatz und Anstrengung gehören dazu. Es macht auch mal Spaß, unter der persönlichen Grenze Plaisir zu genießen. Aber wo das Risiko gering ist, möchte ich auch an meine Grenzen gehen, und kämpfe auch dafür.

Die Leidensbereitschaft dagegen hat nachgelassen. Es sei denn, dass man einen schmerzenden Riss als Leiden bezeichnet; das nehme ich schon mal in Kauf. Aber Frieren und Biwakieren sind nicht mehr so beliebt – da frag ich mich immer, warum mach ich den Scheiß. Andererseits: Wenn der Wecker klingelt, ärgerst du dich; wenn die Sonne aufgeht, sagst du: was für ein geiler Tag.

Eine gewisse Souveränität, Eleganz und Leichtigkeit war mir immer wichtig. In Siebzigern war VI+ das schwerste, eine Differenzierung war nur möglich durch schnelle Begehungszeiten. Wir hatten immer sehr gute Zeiten – das war ein Indikator, dass wir den Anforderungen souverän gewachsen waren und genügend Reserven hatten.

Lang habe ich geträumt vom Cerro Torre. Irgendwann dann habe ich eine Alters- und Leistungsstufe erreicht, wo ich es mir nicht mehr zutraue. Ich hätte nicht mehr den Schalter auf 100% Go legen können, wäre immer zurückhaltend und ängstlich; das passt nicht für so ein Ziel. Früher dagegen war’s so: Wenn’s losging, ging’s los, dann konnte ich ziehen.

 

Warum hast du so wenig Erstbegehungen gemacht?

Mit Helmut Kiene habe ich mal eine Neutour in der Schiaragruppe gemacht und eine im Rosengarten, aber nix Bedeutendes. Zwei größere Projekte hätten wir gehabt, aber das an der Laliderer hat uns Sepp Ritter weggeschnappt, das an der Marmolada wurde von Polen gemacht.

Mich hat eher viel klettern interessiert als viel arbeiten. Schon damals kam man nicht unbedingt auf Anhieb durch in einer Neutour, musste wieder abseilen, nächstes Wochenende wiederkommen, viele Anläufe investieren – darauf hatte ich keine Lust. Lieber habe ich möglichst frühe Wiederholungen von anspruchsvollen Routen versucht, oder auch erste Winter- oder Rotpunktbegehungen.

Heute ist es ein wahnsinniger Arbeitsaufwand, eine Neutour schön einzubohren. Und zum Wiederholen gibe es so viele geile Routen.

 

Und warum hast du nicht versucht, über den neunten Grad hinauszukommen?

Ich gehe heute noch gerne an meine Leistungsgrenze, aber es muss schnell hergehen. Am liebsten onsight. Letztes Jahr bin ich in Konstein zwei-, dreimal an ein Projekt gefahren, aber normalerweise ist mir eine Route diesen Aufwand nicht wert.

Es gibt ja auch so viele schöne Achter. Letztes Jahr bin ich eine Alpinroute mit 7a+ und 7b im zweiten Anlauf geklettert, das reicht mir vollkommen.

Oft zum Üben hinfahren und speziell trainieren ist mir zuviel. Im Yosemite haben wir das einst gemacht: gezielt trainiert – und uns auch überraschend schnell gesteigert.

Aber mehr als IX- bin ich so gut wie nie geklettert. Ist mir auch ziemlich wurscht. Ich denk mir immer: macht das Sinn, für einen Neuner so viel Zeit zu investieren? Und klettere dann lieber erst mal vorher was anderes. Nur ins Projekt zu gehen ist mir zu öde. Lieber klettere ich mehr, was ich mit überschaubarem Zeitaufwand raufkomme.

 

Worauf konzentriert sich denn dein Ehrgeiz am Berg?

Schöne Routen machen, Projekte und Wünsche abhaken. Ich habe einen halben Schrank voller Führer, daraus schmökere ich mir an den Winterabenden Wunschziele raus, nach den Kriterien: Schöner Berg, ordentlich abgesichert, schön zu kletternde Route. Und dann versuche ich sie abzuhaken. Ich habe noch jede Menge Ziele, bis 7b. An die ganz schweren fahre ich aber nur hin, wenn’s gut läuft. Und wenn ich einen Hänger drin habe, möchte ich meistens auch noch mal hinfahren, um es noch sauber durchzuklettern.

Am meisten ziehen mich Mehrseillängen-Routen an, aber ich gehe auch gerne mal auf die Schwäbische Alb, nach Konstein oder in den Frankenjura.

Meine Traumrouten entstehen oft aus Bildern. So hatte ich von der „Fiesta del Biceps“ Bilder gesehen mit diesen Konglomerat-Griffen wie Kartoffelknödel; da wollte ich rauf. Und vorher wollte mein Kletterpartner nach Rodellar zum Sportklettern, dort konnte ich auch einige 7a+ und 7b onsight gehen, aber schwereres zu probieren hat mich nicht gereizt.

 

Was bedeutet dir Bergsteigen überhaupt? Was wärst Du geworden ohne diese Leidenschaft?

In jungen Jahren brachte es mir vor allem Selbstbewusstsein. In der Schule hatte ich viele schlechte Noten (außer im Sport); als Kletterer war ich durch meine Leistung sofort akzeptiert und respektiert von den Erwachsenen, als vollwertiger Partner.

Gelehrt hat mich das Bergsteigen eine gewisse Härte und den Biss, dranzubleiben. Aber auch mit Misserfolg umzugehen. Und dann wieder aufstehen und es nochmal zu probieren.

Außerdem muss man beim Bergsteigen planen und kalkulieren, auch die Risiken. Auch geschäftlich war ich eher risikoscheu. Zum Beispiel war ich in der Frage, wann neue Produkte serienreif sind, immer zurückhaltend. Mit ein Grund für Deuters Erfolg war, dass wir fast keine Fehler gemacht haben. Stattdessen haben wir ganz sorgfältig abgewogen, was wir können.

Partnerschaft und Teamfähigkeit gehören zum Klettern, aber das hatte ich auch vom Sport schon gekannt.

Jedenfalls war das Klettern unter meinen drei Standbeinen (Berg, Beruf, Familie) dasjenige, das mir immer körperliche und geistige Frische und die Möglichkeit zum Austoben gegeben hat. Aggressionen abbauen, den Akku aufladen. Reinhard Karl hat gesagt: den Gorilla ausführen.

Und es ist ein schöner Kontrast zum Berufsleben, wo du öfter in richtig guten Hotels bist, in einer künstlichen Businesswelt mit tollem Essen und allem Luxus. Da bringt es dich wieder zurück zu den Wurzeln, am Wochenende im Auto zu pennen, sich im Bach zu waschen, an einer Pizza zu freuen, im Schlafsack zu übernachten. Raus aus der sterilen Stadt-Umwelt in eine ruhige, ursprüngliche Natur. Am schönsten ist das im Spätherbst, wo niemand unterwegs ist.

 

Hast du manchmal Angst? Unter großen Wänden? In heiklen Situationen? Wie gehst du damit um?

Glück gehabt: Die Säule von „Hydrophobia“ (WI 6) im Brunnital hielt gerade noch
Glück gehabt: Die Säule von „Hydrophobia“ (WI 6) im Brunnital hielt gerade noch
Meine größte Angst ist die um die Gesundheit: dass die Gelenke nicht mehr mitmachen oder dass ich ernsthaft krank werde und jahrelang im Bett liege. Und natürlich auch, dass so ein Schicksal Partner oder Kinder trifft.

Beim Bergsteigen gehörte die Angst von Anfang an dazu. Ich habe viele schlimme Unfälle miterlebt. Mich selber haben die meisten Ängste nachts geplagt, im Dunklen; sobald der Tag anbrach, wurde es besser. Von den großen Touren rund um die Argentièrehütte habe ich rund 25 Stück begangen, und in allen vorangehenden Nächten habe ich insgesamt vielleicht zehn Stunden geschlafen – die meiste Zeit bin ich wach gelegen und habe nachgedacht, was schiefgehen könnte.

Existenzielle Angst habe ich erlebt bei einem Wettersturz in der Matterhorn-Nordwand. Gottseidank reagiere ich nicht panisch. Wir haben einen möglichst geschützten Platz gesucht, den Stand gut abgesichert und gewartet bis es vorbei war. Am engsten war es bei einem Gewitter am Salbitschijn: unsere Situations-Analyse ergab, dass wir keine Chance hatten, aktiv etwas zu tun. Also blieb nur, demütig abzuwarten. Generell läuft in kritischen Situationen das Programm: analysieren – abwägen – entscheiden.

Heute hat man mehr Möglichkeiten, sich retten zu lassen. Aber mir ist es wichtig, selbst für mich verantwortlich zu sein. Nach der McIntyre an der Jorasses-Nordwand haben wir im Abstieg einen Abzweig verpasst, sind auf einem zerrissenen Gletscher zu weit abgestiegen und über Randkluften gesprungen; dann merkten wir, dass wir blockiert waren, und mussten uns per Hubschrauber helfen lassen. Dass wir da nicht aus eigener Kraft rausgekommen sind, fand ich beschämend.

 

Du bist früher sehr viel solo gegangen, bis du am Battert schwer abgestürzt bist – welche Konsequenzen hast du daraus gezogen?

Bewusst solo gehe ich jetzt nicht mehr. Im Rückblick sehe ich diese Geschichte so: Irgendwann habe ich angefangen mit dem Sologehen (mit 15 zum ersten Mal die „Freundschaft“ (V+) am Battert), dann wirst du immer süchtiger nach dem Flow-Erlebnis, willst immer mehr oder immer schwierigere Routen. Dann musst du aussteigen, oder es scheppert irgendwann. Ich bin viele Kilometer solo geklettert, wenn ich an den Battert gekommen bin, erst mal 30 Routen, darunter auch Sechser im Abstieg. Mein Unverletzlichkeitsglaube hatte sich ziemlich weit entwickelt. Ich bin auch in Sechser im Gebirge eingestiegen; zum Beispiel am Sellaturm die speckige Tissi rauf und die noch speckigere Trenkerverschneidung runter. Das war nicht gut.

 

Aber in großen Wänden gehst du schon noch größere Stücke seilfrei?

Wo es nötig oder sinnvoll ist, etwa beim leichteren Zustieg zu schwierigeren Wandpartien, da ist das schon ok.

 

Unter anderem als Folge deines Absturzes und des versteiften Sprunggelenkes sind heute deine Knie kaputt – wie gehst du mit dem Körper-Verfall um?

Nun: Das Ersatzteilzeitalter kommt. Die Hüfte ist noch ok, aber die Knie ärgern mich. Nach einer ersten Operation waren sie 30 Jahre ruhig, mittlerweile ist der Knorpel ziemlich komplett weg. Aber ich versuche, die Prothese so lange wie möglich rauszuziehen.

Körperlicher Verfall im Alter ist normal, ich werde Leistungsabstriche machen müssen. Aber ich werde damit leben können, so wie ich auch jetzt mit dem Verzicht auf die ganz großen Westalpensachen zurechtkomme. Ich hoffe, dass ich mit dem umgehen kann was auf mich zukommt. Mein Wunsch ist nur, möglichst lange überhaupt noch klettern zu können. Ich bewege mich ja sowieso nur auf Gerüstbauerniveau. Wichtig ist mir, dass es Spaß macht. Auch Siebener mit Normalhaken sind ja was nettes.

Jedenfalls mache ich jedes Jahr einen Gesundheitscheck beim Hausarzt, um von dieser Seite keine Überraschungen zu bekommen.

 

Was bedeutet Dir die Zahl 60? Wie „alt“ fühlst Du Dich?

Die Zahl an sich ist für mich kein Thema. Wenn ich Probleme habe, dannn eher mit den körperlichen Gebrechen, die mit den Jahren einhergehen. Und wenn was wehtut, kriege ich gleich Angst vor dem Ende. Aber es ist halt so: Früher haben wir über fesche Mädels geredet, heute über Arthrose.

 

Was willst Du noch erreichen in Deinem (Berg-)Leben?

Ich habe früher gerne geangelt, und mit der zunehmenden Freizeit werde ich das sicher wieder reaktiveren – aber das Angeln wird mich wahrscheinlich nicht so erfüllen wie das Klettern.

Außerdem habe ich noch jede Menge alpine Ziele in schönem Kalk. Es gibt ja immer wieder neue Gebiete und es wird noch viel erschlossen. Ich habe schon eine große Liste aus diversen Führern rausgeschrieben.

Ein großes Ziel wäre, die „Caminando“ (VIII+) an den Wendenstöcken noch rotpunkt zu klettern; zweimal war ich schon drin, habe sie aber nicht ganz frei geschafft, und das ist einfach eine großartige Linie.

 

Was findest Du faszinierend am modernen Bergsport? Und was stört dich?

Ich bin begeistert von Leistungsfähigkeit der jungen Generation. David Lama ist einer der herausragenden Protagonisten, er verdient höchsten Respekt. Aber auch Hansjörg Auer im „Fisch“ und Alex Huber in der Hasse-Brandler haben Mut bewiesen. Die junge Südtiroler Schule mit Protagonisten wie Simon Gietl oder den Riegler-Brüdern finde ich super, die sind stark und gut drauf. Auch Ueli Steck, und das sage ich ganz bewusst angesichts der öffentlichen Kritik an seiner Annapurna-Begehung: Zuerst mal muss man ihm glauben, er hat auch vorher schon tolle Sachen gemacht.

Gleichzeitig sehe ich bei vielen anderen eine Vermarktungs- und Profilierungssucht, über die ich manchmal schmunzle. Gottseidank mussten wir damals nicht Facebook und Blogs befüllen. Für Außenstehende ist das schwierig einzuschätzen, und ich mag’s auch nicht wirklich kritisieren.

Mit den Exzessen am Everest kann ich nichts anfangen – schade dass ausgerechnet am höchsten Berg der Welt das Leistungsniveau so mies ist.

Dagegen machen beim Alpinklettern stille Leute tolle Sachen. Und der Expedkader, den ich anfangs kritisiert habe, ist eine gute Aufgabe für den DAV, weil er begabte junge Alpinisten fördert und motiviert.

 

Was für ein Fazit ziehst du zu deinem bisherigen Leben?

Wenn ich mich zurücklehne und in aller Ruhe reflektiere, kann ich für mein Leben nur dankbar sein. Beruflich habe ich Dinge erreicht, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte. Und beim Bergsteigen gab es Erfolge, die ich nie im Sinn hatte: die drei Nordwände, der Everest, schweres Klettern. Ich hatte einfach wahnsinniges Glück und kann als Bilanz nur sagen: Ich habe ein gigantisches Leben gehabt. Dabei haben immer wieder glückliche Faktoren eine Rolle gespielt. Man kann versuchen, sie zu steuern, aber es hätte auch ganz anders laufen können.

Der Unfall war der größte Bruch, extrem schmerzhaft, monatelang wusste ich nicht, ob und wie’s weitergeht, ob ich überhaupt will. Deshalb ist mir die Gesundheit das wichtigste, weil ich das Gegenteil erlebt habe. Nach dem Studium keine Lehrerstelle zu bekommen hat auch wehgetan, aber es hat sich immer ein Weg aufgetan, der sehr positiv war. Nach dem Unfall habe ich mich vom Schwierigkeitsjagen weg entwickelt, mein Leben neu gewichtet, Familie und Beruf kamen dazu.

Meine Kinder konnte ich motivieren, selbstständig denkende Menschen zu werden. Die Familie hat mir Geborgenheit gegeben. Je älter ich werde, desto weniger gerne gehe ich weg, und desto lieber komme ich wieder heim. Ein Tag in den Bergen reicht mir heute oft. Und wenn unserer Tochter Julia zu Besuch kommt, freut es mich besonders. Oft merkst du erst, wenn du etwas nicht mehr hast, wie wichtig es dir war.

 

Wer froh ist, ist ein König: Eispalast am Lake Louise (Kanada)
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