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„Behindert? Eigentlich nicht.“

Maxi Jäger (14) aus Bad Brückenau hatte vor der Geburt einen Schlaganfall. Dank intensiver Therapie und Sport kann er heute ein fast normales Leben leben – und wurde bayerischer Meister im Para-Slalom. Das Interview zum Beitrag in DAV Panorama 1/15.

 

Andi Dick sprach mit Maxi und seinen Eltern Thomas (46) und Barbara (47). Zur Familie gehören noch Anne (10) und Jette (7).

 

Maxi hatte einen „vorgeburtlichen Schlaganfall“ – wie kam es dazu und wann habt ihr das bemerkt?

Barbara: Man weiß keinen Grund dafür, wie es dazu kam. Man hat nur bemerkt, dass die Herztöne schwach waren, und hat das Kind per Kaiserschnitt geholt. Nach der Geburt war das Problem nicht gleich ersichtlich, erst später ist uns aufgefallen, dass er die linke Hand nicht einsetzt. Wir sind dann mit ihm zur Säuglings-Krankengymnastik – aber auch dort hat man das noch nicht erkannt.

Erst als er dann auch noch epileptische Anfälle bekommen hat, sind die Ärzte aufgewacht und haben ein CT gemacht und festgestellt, dass die rechte Hirnhälfte geschädigt ist. Wir sind dann zu vielen Kliniken und Ärzten gegangen, bis endlich im Epilepsiezentrum Kehl-Korb durch ein MRT erkannt wurde, dass er vor der Geburt einen Schlaganfall hatte. Die Ursache dafür wurde nicht gefunden, Maxi ist aber kein Einzelfall.

 

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Maxi wurde bayerischer Meister im Para-Slalom, Foto: Archiv Jäger

 

Wie ging es dann mit Maxi als Kleinkind weiter?

Thomas: Maxi hat eineinhalb Jahre lang Medikamente bekommen, um weiteren epileptischen Anfällen vorzubeugen. Außerdem haben wir viel Krankengymnastik und Ergotherapie mit ihm gemacht. Und tatsächlich hat er mit zwei Jahren Laufen gelernt – die Ärzte hatten uns zuerst geschockt mit der Aussage, dass er das nie lernen würde, aber wir haben nicht daran geglaubt. Und tatsächlich hat er’s gepackt.

Überhaupt ging die Entwicklung immer nach vorne, es gab keine Rückschritte. Max hat immer gekämpft, und wenn es auch kleine Schritte waren, ging es doch immer aufwärts.

 

Wie kommt er mit dem täglichen Leben zurecht, mit Schule und Haushalt?

Barbara: Er kann mit seinem Handicap von Jahr zu Jahr besser umgehen. Mittlerweile kann er sogar die linke Hand steuern; durch Therapie und Willen hat er das gelernt. Auch am linken Bein hat er mittlerweile gute Muskulatur; beim Skifahren trägt er am linken Knie eine Orthese, um bessere Führung zu haben und mehr Druck auf den Ski zu bringen. Der linke Fuß ist zwei Nummern kleiner, das muss man per Skischuh ausgleichen.

Im Alltag war er zuerst an einer Körperbehindertenschule; das war am Anfang gut, aber er wollte gerne an eine normale Schule. Das war nicht leicht durchzusetzen, aber eine Montessorischule hat ihn dann aufgenommen. Max ist da mit super Selbstbewusstsein reinmarschiert und hat jetzt das erste Schuljahr gut bestanden, mit dem normalen Lehrplan. Die fördern ihn gut; es gibt eine fest angestellte Schulbegleiterin, die ihm bei Bedarf helfen kann, das ist aber normalerweise nicht nötig.

Thomas: So hat er jetzt die Normalität, die er immer wollte. An einer Regelschule in Bayern wäre das wohl nicht möglich. An der Montessorischule dagegen wird Max einen normalen Schulabschluss machen und er wird gute Chancen haben am ersten Arbeitsmarkt.

Von der Schule aus hat er dieses Jahr ein Praktikum im Biosphärenreservat Rhön gemacht, und der Leiter hat ihn eingeladen, wieder mal zu kommen. Maxi saugt solche Sachen in sich auf. Und sein Ziel für die nähere Zukunft ist ganz klar: an der Schule Erfolg haben!

Barbara: Auch im Haushalt hilft Maxi voll normal mit. Er muss dazu zwar Ideen entwickeln, zum Beispiel einen Clip für die Möhrenraspel, um sie mit der linken Hand halten zu können. Oder eine Reißverschluss-Verlängerung, um die Jacke zuzumachen; zum Schuhebinden haben wir auf Tankaverschlüsse umgestellt.

 

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Maxi auf dem Mountainbike, Foto: Archiv Jäger

 

Ihr habt früh angefangen, die Therapien durch Sport zu ergänzen.

Thomas: Mit vier Jahren haben wir ihn erstmals auf Ski gestellt; auch da hatte jemand gesagt, das geht gar nicht. Wir fahren selber gerne Ski und haben früher viele Skitouren gemacht. Und wir haben gesehen, dass er es umsetzen kann und Spaß dabei hat. Anfangs zwischen den Beinen des Skilehrers, ab sechs ist er sogar selbst gefahren. Das Liftfahren war anfangs auch nicht leicht für ihn – aber es ist immer einen Schritt weiter gegangen. 2013 hat er die Bayerischen Para-Skimeisterschaften im Slalom gewonnen, im Riesenslalom war er Zweiter.

Beim Radfahren lief es ähnlich: zuerst hatte er ein Therapierad mit Stützrädern, dann wollte er sie weg haben. Seit 2013 hat er sogar ein Mountainbike und fährt uns damit davon, vor allem beim Bergabfahren ist er mutiger als wir. Und wenn er mich beim Bergauf-Radeln abzockt, dann sage ich mir: Der Aufwand hat sich rentiert.

Barbara: Sport ist ein wichtiger Teil seines Therapie-Lebens: Neben Mountainbike und Skifahren gehören Kajak, Klettern und Schwimmen dazu. Durch den Sport hat er sein Handicap gut kompensiert, die linke Seite hat viele Muskeln aufgebaut, statt durch Schonhaltung zu verkümmern.

Wir wollten sogar schon einen Klettersteig im Gebirge gehen; er schafft schon selbständig das Umhängen. Aber dann war in diesem Sommer entweder schlechtes Wetter oder es gab Terminprobleme. Zusammen mit seinen Schwestern war er aber auf einem Sommercamp vom Bayerischen Behindertensportverband BVS, als Trainer war Markus Mair dabei, der in der DAV-Sektion Kampenwand Inklusionsangebote macht, das hat super funktioniert. Und 2015 macht seine Schule eine Alpenüberquerung von Oberstdorf nach Meran und Max geht mit. Sie arbeiten jetzt schon die Tour selber aus.

 

Maxi-Jaeger-Kajak
3x4 Stunden pro Woche trainiert Maxi fürs Kajakfahren, Foto: Archiv Jäger

 

Wie wirkt sich der Sport therapeutisch aus?

Thomas: Maxi war nie therapiemüde oder hat gesagt „ich will nicht mehr“, obwohl ihn die Ergo- und Physiotherapie ein Leben lang begleiten wird.

Am stärksten gehandicapt ist die linke Hand; das Bein ist nicht so dünn wie sonst bei Spastiken. Aber mit der linken Hand kann er keinen Skistock halten oder keinen vollen Eimer Wasser tragen. Da hilft Kajakfahren oder auch Klettern sehr gut. Wenn er an der Kletterwand die linke Seite nicht einsetzen würde, würde er von der Wand wegkippen.

Durch die Halbseiten-Spastik ist Max auch nicht ganz in seinem Körpermittelpunkt. Es ist oft so bei Spastiken, dass der Rücken schief wird. Aber Maxi steht ziemlich gut da, die Hüft-Fehlstellung ist ganz gering. Dadurch werden Folgeschäden für später abgeschwächt oder verzögert.

Sport ist eine Therapie, die nicht als Therapie rüberkommt, sondern spielerisch die Bewegung trainiert, so dass die Ansteuerung vom Hirn wieder funktioniert. Während Max auf der Körperbehindertenschule war, war die Therapie nicht frei wählbar; jetzt können wir richtig gut arbeiten. Das Krankenkassensystem könnte viel Geld sparen, wenn man so arbeiten würde wie wir.

Die beste Therapie ist die Normalität im Alltag, das ständige Dranbleiben. Viele Eltern trauen ihren Kindern zu wenig zu. Wir haben uns vieles erarbeiten müssen und dabei gelernt: Auch mit Handicap geht umso mehr. Maxi wäre ohne den Sport heute nicht da, wo er jetzt ist.

 

Wie schafft ihr dieses Programm? Zeitlich, finanziell und emotional?

Barbara: Fürs Kajakfahren trainiert Maxi dreimal vier Stunden pro Woche, Klettern dauert mit Anfahrt zwei bis drei Stunden, die Ergotherapie zweieinhalb – da fahre ich ihn meistens hin; nur zur Physiotherapie kann er selber gehen. Auch das gemeinsame Lernen für die Schule ist mehr Aufwand als üblich. Im Winter zum Skifahren haben wir fünf Stunden einfache Anfahrt nach Berchtesgaden und das ganze Wochenende ist belegt. Das ist meist der Part von Thomas.

Sicher fragt man sich manchmal: Wo bleib ich dann? Aber Max profitiert, es tut ihm gut, da kann man ja gar nicht anders. Thomas arbeitet im Vertrieb für ein Outdoor-Unternehmen, ist viel unterwegs bei Kunden und auf Messen. Ich manage den Hauptanteil, meine geringfügige Beschäftigung in der Buchhaltung ist von zuhause aus machbar; Max kommt ja erst um 16 Uhr aus der Schule. Mittlerweile ist Max in der Schule gut angekommen, jetzt möchte ich wieder etwas mehr machen. Alles zu organisieren wird nicht einfach werden, aber alle unsere Kinder ziehen mit und jeder packt halt etwas mehr mit an.

Unsere jüngere Tochter Jette (7) fährt jetzt auch Kajak, Anne (10) fährt gut und gerne Ski. Ohne Max wären sie vielleicht nicht dazu gekommen. Sie gehen auch mit zum Klettern, und Eifersucht gibt es nicht. Sie sind sicher anders geprägt als in anderen Familien, aber sie nehmen viel mit, was ihnen für ihr Leben helfen wird. Und prinzipiell werden alle Kinder bei uns gleich behandelt. Manchmal macht auch der Opa etwas mit Max, dann bin ich bei den Mädels.

Sicher gibt es gewisse Zeiten, wo du nur noch funktionierst. Man wundert sich, wo man die Energie hernimmt. In Selbsthilfegruppen musst du dich auch mal ausklinken, damit du dich nicht selbst bemitleidest. Aber wenn dann wieder was vorangeht, daraus nimmst du neue Kraft.

Thomas: Dieses Leben gibt einem auch sehr viel. Max wird in zwei Jahren den Führerschein machen, mit 17 begleitet fahren, immer selbstständiger werden. Irgendwann ist er dann aus dem Haus und wird eigenständig leben, die Töchter auch – und dann muss das Leben weitergehen. Deshalb darf man auch die eigenen Ziele nicht aufgeben.

Max wächst wie jeder Mensch mit seinen Aufgaben. Deshalb ist auch Loslassen wichtig, nicht überbehüten. Der Grat zwischen den Extremen Unterfordern und Überfordern war am Anfang schmäler, jetzt ist es ein breiteres Fundament.

 

Welche Rolle spielt dabei der Alpenverein?

Thomas: Wir leben in Bad Brückenau, die ganze Familie ist in der DAV-Sektion Fulda. Ich war in den 1980ern Jungmannschaftsleiter; jetzt bin ich nicht mehr in der Sektion engagiert, weil einfach keine Zeit dafür übrig ist. Aber wenn ich Klettern und Skitourengehen nicht gelernt hätte, könnte ich es jetzt nicht an Max weitergeben.

Wir stecken finanziell stark zurück, um das zu ermöglichen. Eine Firma vor Ort unterstützt Max; das deckt zwar nicht alles, aber es hilft für Ausrüstung und Lehrgänge. Das ist das Problem in der Sportförderung: Wenn jemand ganz oben ist, kommen alle, aber für die Aufbauarbeit ist keiner da. Immerhin fängt der Bayerische Behindertensportverband jetzt an mit Bergsport-Förderung.

 

Maxi, erzähl doch mal, wie Dein Alltagsleben verläuft!

Maxi: Um sechs Uhr morgens stehe ich auf und frühstücke, um fünf nach sieben fahre ich mit dem öffentlichen Bus los, das letzte Stück zur Schule mit einem privaten Fahrdienst. Die Schule geht von 8.30 bis 14.20 Uhr, um vier bin ich wieder daheim und muss noch lernen oder Hausaufgaben machen. Danach habe ich fast täglich Training oder Therapie: einmal Ergotherapie und Physio, zweimal die Woche Elektrische Muskelstimulanztherapie, im Sommer dreimal pro Woche Kajaktraining. Radeln, Laufen oder Nordic Walking baue ich immer mit ein, abends mache ich noch spezielle Übungen für meine Disziplinen. Und am Wochenende mach ich was anderes, wie zum Beispiel Klettern.

 

Bleibt da noch Freizeit?

Maxi: Schon. Gelegentlich streife ich durch den Wald und suche mir Verstecke oder baue etwas aus Ästen und Zweigen.

 

Wie kommst du mit deinen neuen Schulkameraden klar?

Maxi: Ich fühle mich voll akzeptiert; die Lehrer sagen, sie sind froh, dass ich hier bin. Aber ich bin auch sehr glücklich auf der Schule; als der Aufnahmebescheid kam, hab ich gedacht, die wollen mich verarschen. Ich konnte es kaum glauben, so glücklich war ich. Meine Eltern haben mich wie einen anderen Menschen empfunden, als sie mich am ersten Tag abgeholt haben.

 

Macht dir der Sport Spaß, bist du ehrgeizig, oder siehst du ihn mehr als Therapie?

Maxi: Ich bin schon ehrgeizig und will auch gewinnen. Die Erfolge bei der bayerischen Para-Skimeisterschaft haben mich sehr gefreut. Diesen Winter bin ich auch bei der deutschen Meisterschaft mitgefahren und Dritter im Slalom, Vierter im Riesenslalom geworden. Ich war zufrieden damit, denn ich habe alles gegeben, was mir möglich war.

 

Welche Sportart machst du am liebsten?

Maxi: Ich mache alles gerne. Ein großer Wunsch ist, einmal auf Skitour zu gehen. Ich kann zwar nur mit einem Skistock gehen und fahren, aber das geht schon auch. Vielleicht sogar gleich im freien Gelände, nicht nur auf der Piste, wir fahren ja auch im Training mal im ungewalzten Schnee.

Das Kajakfahren ist hauptsächlich ein guter Ausgleich im Sommer für die Rumpfmuskulatur. Aber ich mache auch da bei Rennen mit; bei der Bayerischen Meisterschaft habe ich den dritten Platz belegt. Das Paddel muss ich an einer Armschiene befestigen, weil ich in der Hand zu wenig Kraft habe, dann ist es beim Wettkampf abgerutscht. Jetzt habe ich eine Orthese, bei der ein Lappen wie ein Handschuh ums Paddel gelegt wird, der aber lösbar ist, wenn das Boot umkippt.

Das Klettern ist gut, weil ich davon Muskeln fürs Paddeln kriege. Einmal war ich schon an einer echten Felswand, sonst in der Kletterhalle, natürlich im Toprope. Auch das Umhängen für Klettersteige habe ich schon trainiert, es funktioniert gut.

 

Wie empfindest du die „normalen“ Therapien?

Maxi: Die mache ich auch gerne, weil’s mich auch für den Sport weiterbringt.

 

Im Frühling warst du beim Paralympischen Winterjugendlager in Sotschi – wie war das?

Maxi: In dem Lager waren wir neun jugendliche Para-Sportler aus Deutschland: vom Schwimmen, Biathlon, zwei vom Skifahren – mein Kollege hatte eine Prothese und fährt mit Krücken Ski. Wir hatten eine Dolmetscherin aus Russland und haben uns praktisch alle Wettbewerbe angeschaut. Und wir hatten Kontakt zu den Sportlern, einmal habe ich sogar eine Goldmedaille in der Hand gehalten, die war richtig schwer. Wir haben auch Sportler und Jugendliche aus anderen Nationen getroffen und sind mit der Nationalmannschaft zurückgeflogen. 13 Tage war ich völlig auf mich allein gestellt, aber Heimweh hatte ich nicht.

Für die Bewerbung mussten wir ein Begründungsschreiben einschicken. Ich habe geschrieben, was ich mache, und dass ich da hin will, um zu sehen, wie es die Anderen machen. Mit Sportlern sprechen, wie sie sich fühlen nach dem Rennen, ob sie schlapp sind oder weiter machen. Wenn man an denen sieht, was man imstande ist zu leisten, dann weiß man, warum man’s selber macht.

 

Möchtest du gerne selber bei den Paralympics mitmachen?

Maxi: Klar: Ich trainiere konsequent drauf, dass ich 2018 oder 2022 antreten kann; ich bin ja noch jung. Einmal bei Paralympischen Winterspielen starten, das ist mein Lebenstraum.

 

Hast du sonstige Vorstellungen, wie dein Leben in Zukunft aussehen könnte?

Maxi: Nee, das kommt noch. Mein Lieblings-Schulfach ist PTB (Physik/Technik/Biologie) – das sind interessante Themen, zum Beispiel der Körper oder Wärme und Kälte. Und mit Technik umgehen macht mir Spaß. In Sotschi habe ich viel fotografiert. Nach der Reise habe ich mir erklären lassen, wie PowerPoint funktioniert, und habe dann in meiner Schule eine halbstündige Präsentation über Sotschi gezeigt. Die habe ich später auch noch in einer Grundschule gezeigt, die mich einmal bei einem Spendenlauf unterstützt hat.

 

Böses Wort: Empfindest du dich als „behindert“?

Maxi: Eigentlich nicht.

Thomas: Behinderung spielt sich in den Köpfen ab. Beim einen sieht man’s, beim anderen nicht.