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Longlines: Volle Bandbreite

Vom Klettern großer Linien in den Nördlichen Kalkalpen – Ralf Gantzhorn (†, Text und Fotos) nimmt uns mit auf die ganz großen Klettereien. Touren, bei denen der Kletterspaß nicht aufhört, auch wenn man eigentlich schon genug hatte.

Plus zum Heft: Audio-Kommentare + Bildmaterial + Tourenauswahl + Tipps & Tricks

 

Prolog: Ich mag Bücher ...

... besonders angetan haben es mir dabei so genannte „Coffee Table Books“. Bücher also, leider gibt es dazu kein adäquates deutsches Wort, die sowohl Appetit machen, als auch gleich Handlungsanweisungen zur Umsetzung der Gelüste geben. Eines der für mich im letzten Jahr prägendsten „Coffee Table Books“ war das Werk "Longlines" von Adi Stocker. Damit meint er alpine Klettertouren mit Minimum fünfhundert Metern Kletterlänge  – also mindestens zwanzig Seillängen. Vierzig solche Routen in den Nördlichen Kalkalpen hat der Autor ausgewählt, großartige Bilder und aussagekräftige Topos gibt’s gleich dazu. Immer öfter schaute ich mir im Frühling das Werk an, kletterte in Gedanken schon so manche Linie, fragte mich, welches wohl die lohnendsten wären. Als dann der Sommer kam, war klar: Nur die Realität kann mir meine Fragen beantworten.

 

Zwischen Theorie, Wirklichkeit und Flexibilität

Erste Station zur Überprüfung von Theorie und Wirklichkeit ist der Wilde Kaiser. Mit vier Routen ist das historische Kletterrevier der Münchner im Buch vertreten. Zwei Wochen Zeit im Gepäck, so meine Überlegung, da sollten wohl mindestens zwei Touren im Kaiser und eine irgendwo anders möglich sein. Mit von der Partie ist Sonja Schade, seit vielen Jahren eine zuverlässige Kletterpartnerin für die langen und schweren Routen im Gebirge. Treffpunkt für unsere ersten Meter im Fels 2019 ist das Stripsenjochhaus, das wir mit langem Hatsch durchs Kaisertal erreichen. Eine Hütte mit dem Charme einer Bahnhofsgaststätte. Für viele Wanderer ist sie die zentrale Hütte im Kaiser; da kann ich die Ausgabe von Essensmarken noch nachvollziehen. Aber warum wir mit jedem zweiten Satz darauf hingewiesen werden, dass es Abendessen nur bis exakt 19 Uhr gibt und danach keine Bestellungen mehr entgegen genommen werden, ist mir nicht so richtig klar. Flexibilität gegenüber Kletterern mit langen Touren im Sinn funktioniert auf jeden Fall anders. Ob wir die 23 Seillängen der „Kirchl-Ideale“  bis 19 Uhr schaffen? So weit kommt es gar nicht. In den nächsten zwei Tagen gewittert es so zuverlässig, dass selbst die als Eingehtour gekletterte „Ewig lockt das Weib“ mit ihren zwölf Seillängen zu einer Verspätung auf der Hütte führt.

 

Klettererherz, was willst du mehr?

Im wohltuenden Kontrast zur Reglementierungswut auf dem Stripsenjochhaus steht das Hans-Berger-Haus. Unfassbar wohltuend sogar. Nicht nur das Essen ist ein Traum, wir fühlen uns richtig wohl und willkommen im Reich der "Wilden Kaiserin" Silvia Huber – eine herzlichere Hüttenwirtin muss man erst mal finden. Dermaßen begeistert mieten wir uns gleich für drei Nächte ein, denn besseres Wetter kündigt sich erst nach einem weiteren Regentag an. Und Feuchtigkeit ist so ziemlich das Letzte, was man gebrauchen kann, möchte man eine der beiden Longlines im Himmel über dem Hans-Berger-Haus klettern, in den Wand- und Plattenfluchten der Kleinen Halt. Eine der Routen heißt „Via Aqua“, ein Schelm, wer dabei an mindestens einen Tag Trocknungszeit denkt. So klettern wir als Erstes – auf Empfehlung von Silvia – die „Wetterhex“ im rechten Wandteil der Kleinen Halt. Und sind überrascht, wie anspruchsvoll und schwer sich der siebte Grad im Kaiser anfühlen kann. Und gleich am nächsten Tag die „Via Aqua“? Nach 650 Klettermetern gleich noch Mal tausend im siebten Grad obendrauf? Leichte Zweifel bohren sich in meine Gedanken, muten wir uns da nicht ein wenig zu viel zu? Aber die Wettervorhersage lässt keine Alternative, Essen und der gute Wein auf der Hütte sorgen für den notwendigen Motivationsschub.

 

Mit Sonnenaufgang stehen wir, das Topo in der Hand, unter den gigantischen Plattenfluchten der Kleinen (und doch so großen) Halt und versuchen uns zu orientieren. Und dürfen feststellen: Das Topo von Adi Stocker ist ... ein Traum! Problemlos finden wir den Einstieg und klettern los. Und erreichen nach rund acht Stunden in der Wand das Gipfelkreuz. Umgeben von neugierigen bis dreisten Alpendohlen sind wir komplett begeistert, ziehen Bilanz: fantastische Kletterei, adäquate Absicherung und fast durchgehend guter Fels. Klettererherz, was möchtest Du mehr? Genau – weitere Touren aus diesem Buch!

 

HIER gibt's detaillierte Infos zur Tour "Via Aqua"!

 

Wild und Köstlich

Der nächste Tag bringt das Vorhergesagte, nämlich Regen, und so stehen wir vor der Frage: Wohin nun? Unsere Wahl fällt auf die Routen am Dachstein. Und nach zwei weiteren Regentagen auf die Südabdachung des Hochkönig-Massivs. Drei Routen hat Adi Stocker uns hier anzubieten. Zwei Linien in der als Wetterwand verschrienen Südwand des Großen Bratschenkopfs und die Gratüberschreitung „Wild und Köstlich“ am Großen Törlwieskopf. Auf dem Parkplatz beim Arthurhaus angekommen, ist unsere Prioritätenliste klar: Sehnsuchtsziel Nr. 1 ist „Freier als Paul Preuss“, erstbegangen 1986 nackt, also nur mit Kletterschuhen und Rucksack mit Klamotten für den Abstieg, durch den legendären Albert Precht. Aber auch hier schaltet sich das Wetter wieder dazwischen. Bei Gewittergefahr in eine 1000-Meter-Wetterwand einsteigen? Nein!

 

Nun, auch die Beschreibung von „Wild und Köstlich“ klingt vielversprechend: „... diese wunderbare Kletterei in eindrucksvollstem Ambiente sollte man beizeiten genießen – was man hat, das hat man. Also gebt dem unberechenbaren Lauf des Lebens erst gar nicht die Chance, Euch dieses Schmankerl zu vermiesen!“ Wem läuft bei diesen Worten nicht das Wasser im Mund zusammen, wer möchte nicht sofort einsteigen? Wir steigen ein – und werden auf ganzer Linie enttäuscht! Schrofenschrott mit ein paar schweren Zügen, keine natürliche Linie, viel zu viele Bohrhaken. Unser Fazit: Für Sportkletterer viel zu brüchig, für Alpinkletterer langweilig, anscheinend der Ausreißer im sonst hochgelobten Sammelband. Ein enttäuschender Abschluss meiner zwei Wochen mit Sonja.

 

Eine südfranzösische Plaisirtour in den Lechtaler Alpen

Sechs Wochen später bin ich wieder unterwegs auf den Longlines von Adi Stocker, dieses Mal mit Michael Rinn. Auch er ein fantastischer Alpinkletterer. Ursprünglich wollten wir in die Dolomiten, aber da lagen schon dreißig Zentimeter Neuschnee. Den gab es zwar auch in den Nördlichen Kalkalpen, aber deutlich weniger. Und aus irgendwelchen lokalmeteorologischen Bedingungen besonders wenig in den Lechtaler Alpen. Ein Anruf bei Julia Holzknecht von der Muttekopfhütte bestätigt: Die Südwand der Hinteren Platteinspitze ist eis- und schneefrei. Also warum nicht den „Plattenzauber“ probieren, eine Route, die mit 20 Seillängen und Schwierigkeiten bis VI+ als recht moderat für das Buch gelten darf.

 

Muttekopfhütte und Plattenzauber

Mit Ankunft auf der Muttekopfhütte sind wir angenehm überrascht über die wunderschöne und auch für einen mehrtägigen Aufenthalt geeignete Unterkunft. Leider nutzt das nicht allzu viel, denn der Wecker klingelt gewohnt früh: Eine Longline benötigt normalerweise eben auch long time. Der Zustieg zum „Plattenzauber“ erinnert ein wenig an meine Geologie-Exkursionen zu Studienzeiten in diverse Steinbrüche. Erdhistorisch interessant, als Kletterer ist man jedoch froh endlich den Einstieg gefunden zu haben und loslegen zu dürfen.

 

Und danach?

Den Bohrhaken folgend zum Ausstieg. Wir sind erstaunt, wie viele Haken hier gesetzt worden sind, und voller Bewunderung für die Erschließer. Denn irgendwer muss das ganze Metall ja da hoch geschleppt haben. Uns kommt die Tour ein wenig vor wie eine südfranzösische Plaisirtour, verlegt in das geneigte Gelände der Lechtaler Alpen. Nach knapp vier Stunden stehen wir schon am Gipfel und freuen uns auf ein rechtzeitiges Abendessen auf der Hütte.

 

HIER gibt's detaillierte Infos zur Tour "Plattenzauber"!

 

Hochkönig – die Zweite!

Da das Wetter für weitere drei Tage stabil gemeldet ist, eröffnet sich plötzlich die Chance, ein zweites Mal zum Hochkönig zu fahren und die „Freier als Paul Preuss“ zu klettern. Auch Micha kann sich für die Tour begeistern, und so stehen wir am nächsten Abend erneut am Arthurhaus. Zur Strategie haben wir uns überlegt, nicht gleich nach der Tour abzusteigen – vier Stunden sind dafür einzuplanen –, sondern vom Gipfel des Großen Bratschenkopfs zum Hochkönig zu wandern und dort auf dem Matrashaus zu übernachten. Nach mehreren erfolglosen Versuchen erreiche ich den Hüttenwirt Roman Kurz am Telefon: „Hallo, ich würde gerne zwei Plätze mit Halbpension für den morgigen Abend reservieren.“ Antwort: „Das geht nicht!“ „Warum?“ „Reservieren geht nur noch übers Internet.“ „Ich habe gerade kein Internet und ich habe Sie doch jetzt am Telefon.“ „Du hast kein Internet, ich keine Plätze.“ Danach wird der Hörer aufgelegt. Ich berichte Micha von meinem erfolglosen Telefonat. Wir beschließen, situativ zu entscheiden.

 

Aussichtspromenade auf die Hohen Tauern

Der nächste Morgen begrüßt uns mit Traumwetter. Vom Arthurhaus queren wir hinüber an den Fuß des Großen Bratschenkopfs, der Weg eine einzige Aussichtspromenade auf die Hohen Tauern. Dreht man jedoch den Kopf um 180 Grad, wird einem ganz anders. Wie eine riesige Mauer fällt die Südabdachung des Steinernen Meeres senkrecht zu den grünen Almen ab, höchste und steilste Zinne innerhalb der Mauer: unsere Wand! Ein wenig grummelt es im Magen: 28 Seillängen liegen vor uns, wenige Haken zur Absicherung und die Schlüsselstellen in den Seillängen 25 und 26, also ganz weit oben... Aber wie sagte eine mir sehr nahe stehende Freundin: „Ein Knödel nach dem nächsten...“

 

 

Die erste Seillänge über Platten klettern wir noch ohne Seil, dann steilt sich das Gelände auf. Rund acht Meter über uns erkenne ich den ersten Bolt, rot angestrichen, ein so genannter Sigibolt. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, was das bedeutet, wäre ich vielleicht nicht eingestiegen, hätte den benachbarten „Weg der Chaoten“ bevorzugt. Denn Sigibolts sind hausgemacht und entsprechen nicht den gängigen Sicherheitsnormen. Einmal ist eine ganze Seilschaft abgestürzt, weil der Sigibolt-Stand beim Abseilen ausgebrochen ist. Geht’s noch? Da verlässt man sich auf die Sicherheit eines Bohrhakens am Stand und ist verlassen?

 

HIER gibt's detaillierte Infos zur Tour "Freier als Paul Preuss"!

 

Das gesamte Spektrum des alpinen Erlebnisses

Zum Glück weiß ich darüber zu wenig und so steige ich ein. Und wäre fast nach fünf Metern abgestürzt. An einer leicht überhängenden Stelle ziehe ich an einem großen Henkel und habe plötzlich den kompletten Block in der Hand. Während ich mich mit der rechten Hand stabilisiere, halte ich mit links den gesamten, knapp 15 Kilo schweren Block. „Micha, bind dich aus und geh zur Seite! Schnell!“ Micha erkennt zum Glück die Situation sofort und steht bald zwei Meter links vom Stand. Ich kann den Block fallen lassen. Mit riesigem Getöse poltert der Fels in tausend Stücke zerspringend die Einstiegsplatten herunter. Puuuh – Glück gehabt! Die Backen zusammenkneifend, versuche ich es ein zweites Mal, kann den Haken klinken. Danach wird’s leichter. Erleichtert erreiche ich den Stand, Micha ist dran. Er erlebt ein fast ähnliches Abenteuer in seiner Seillänge und wir fragen uns, ob wir uns das tatsächlich noch weiter antun wollen. Wir entscheiden, noch die nächste Seillänge zu klettern, Paul Preuss eine letzte Chance zu geben. Und das ist gut so. Denn ab der dritten Seillänge ist die Kletterei ein Traum, der Fels fest. Nur über die Absicherung können wir immer wieder den Kopf schütteln. Viele Passagen sind schlichtweg nicht absicherbar und viele der Haken taugen maximal zur Orientierung, da sie oberhalb oder unterhalb der Schwierigkeiten stecken. Wenn es der Wunsch des Sanierungsteams von 2001 war, die Leistung von Albert Precht nachvollziehbar zu gestalten, so ist das gelungen. Fallen ist, selbst wenn die Sigibolts halten sollten, großteils verboten oder wäre mit schwersten Verletzungen verbunden. Auch ist es erstaunlich, dass so mancher Haken in strukturlosen Platten steckt, obwohl zwei Meter daneben ein prima Riss ist. Was soll das? Auch für die beiden Schlüsselseillängen weit, weit oben ist eine solide Moral hilfreich. Die Abstände zwischen den einzelnen Bolts betragen bis zu zehn Meter. Ein Abflug hier gäbe einen großzügigen Flug, immerhin aber in senkrechtem Gelände.

 

Zu Sonnenuntergang erreichen wir den Gipfel des Großen Bratschenkopfs. Auf der einen Seite sind wir stolz auf das Vollbrachte, auf der anderen froh, ohne Blessuren oben angekommen zu sein. Ob wir die Route empfehlen können? Wir wissen es nicht, wollen uns nicht festlegen. Empfehlen wollen wir jedoch das Buch von Adi Stocker. Die Auswahl der Routen bildet das gesamte Spektrum des alpinen Erlebnisses am Berg ab. Von gähnend langweilig oder überflüssig (aber das sind Ausnahmen) bis aufregend und grandios. Ich auf jeden Fall hätte nicht gedacht, dass vier Routen und vier Hütten so unterschiedlich sein könnten. Überraschungen, angenehm oder unangenehm, machen schließlich die Würze im Leben aus.

 

Der Autor

»Gute Bilder sind – neben einer guten Kletterroute – der einzig vernünftige Grund früh aufzustehen.«

 

Ralf Gantzhorn (1964 – 2020) war Profifotograf, Alpinreporter, Berg- und Kletterbegeisterter. Mit seinen Reportagen und Bildern vermittelte er pure Bergbegeisterung, unter anderem in einer Vielzahl an Panorama Titelstorys. Sein Kletterunfall in den Walliser Alpen setzte der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Inspiration ein jähes Ende; der DAV gedenkt eines großartigen Fotografen, anregenden Autors, hervorragenden Bergsteigers – und Freundes!

 

Longlines als Aufgabe – Überlegungen zur Taktik

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Lange Klettertouren – Kletterer und Autor Adi Stocker prägte dafür den Begriff Longlines – sind die Königsklasse im alpinen Sportklettern; der Übergang zum echten großen Alpinismus ist fließend oder manchmal inklusive. Ein Projekt, an das sich nur gestandene und erfahrene Kletterer wagen sollten. Sechs Grundvoraussetzungen für die Kletterei ohne Ende. hr.first-paragraph-separator { display: none !important; }  

Longlines – Klettern (fast) ohne Ende

8 Routen - Alle Infos & Impressionen

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Vierzig alpine Klettertouren beschreibt Adi Stocker in seinem Buch "Longlines". Eine Auswahl haben unser Redakteur Andi Dick und der Fotograf, Autor und Bergsteiger Ralf Gantzhorn (†) getestet, detailliert beschrieben sowie in Bild und Audio aufbereitet. Mehr Infos zum Artikel in DAV Panorama 4/2020 html { scroll-behavior: smooth; }  

Fotograf und Alpinist Ralf Gantzhorn verunglückt

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Am Mittwoch, den 24. Juni, ist der Profifotograf und Alpinreporter Ralf Gantzhorn bei einem Kletterunfall in der Schweiz tödlich verunglückt. Ein persönlicher Nachruf von Andi Dick. Vor zwei Tagen hatten wir noch gemailt: Ralf hatte gerade – Puh! – seine Texte für eine Online-Live-Verlängerung zur DAV-Panorama-Titelgeschichte „Longlines“ (Ausgabe 4/20, erscheint Mitte Juli) geschickt und freute sich, dass es am Nachmittag losgehen sollte ins Wallis. Große Grate an den Viertausendern waren sein Ziel, weiße Linien unter blauem Himmel; sicher hätte er wieder hinreißende Fotos mitgebracht. Bei der Hinfahrt wollte der begeisterte Kletterer wohl eine der berühmten Genussrouten der Cheselenfluh „mitnehmen“. Im Melchtal in der Innerschweiz (Kanton Obwalden) warten dort Mehrseillängenrouten mit teilweise extrem überhängenden Abseilpisten. Und irgendwie muss es dann passiert sein: Kein Knoten im Seilende, ins Leere abgeseilt…