Reinhold Messner: Zwischen Durchkommen und Umkommen
Alpinismus-Geschichte
11.01.2022, 17:28 Uhr
Ein literarisches Denkmal für den klassischen Alpinismus aus berufener Hand – lebendig erzählt und zitiert, trotz ein paar Ungenauigkeiten.
Reinhold Messner hat die Alpinismusgeschichte beeinflusst wie kaum ein anderer – in Wort und Tat. Ende der 1960er Jahre war er einer der markantesten Protagonisten des klassischen Bergsteigens: Mit bewusster Beschränkung der verwendeten Mittel gehörte er zu denen, die den Weg aus den Sackgassen von Techno-Direttissimas und Großexpeditionen wiesen. Als begabter Schreiber und charismatischer Vortragsredner gelang es ihm aber auch, die Ideen und Werte, für die er sich einsetzte, einem breiten Publikum verständlich nahezubringen. Mit diesem neuen Buch macht er die Geschichte und die Triebkräfte des „Traditionellen Alpinismus“ nachvollziehbar und bricht diesem riskanten „Spiel an der Grenze“ eine Lanze.
Interessanterweise fällt die Erscheinung von Messners Buch zeitlich zusammen mit dem Film „Traditional Alpinism“ seines Sohns Simon. Jener nennt als Faktoren, die diesen „mehr als“-Sport prägen: Schwierigkeit (an der persönlichen Grenze), Gefahr und „Exposition“, also abseits infrastruktureller Rückversicherungen. Und diese Faktoren prägen auch die Marksteine der Alpingeschichte, an denen entlang Reinhold Messner sein Narrativ abwickelt. Dafür stehen Zitate wie „Situationen, in denen man das Leben nicht mehr in der Hand hat“ (Georg Leuchs) oder „Wenn ich zusammenbreche, bedeutet es das Ende für alle“ (Walter Bonatti).
Die Form der Präsentation ist so vielgesichtig wie das Thema: Blitzlichter auf Protagonisten und Höhepunkte fügen sich zu einem facettenreichen Mosaik. Messner kombiniert historische und moderne Fotos, porträtiert große Alpinisten und lässt sie mit längeren Erzählungen selbst zu Wort kommen, schiebt Zitate (auch von sich selbst) und verbindende, erklärende, moderierende Texte dazwischen. So skizziert er eine Entwicklung vom „Eroberungsalpinismus“ über den „Schwierigkeitsalpinismus“ zum „Verzichtsalpinismus“ – zuerst in den Alpen, dann an den Bergen der Welt. Dabei treffen Eingeweihte auf viele alte Bekannte, doch Messner holt auch interessante Personen aus der Vergessenheit ans Licht. Eine anregende Lektüre, durch die man auch häppchenweise hüpfen kann und die vielfältige Inspiration bietet.
Historische Genauigkeit? Bedingt …
Wenn ein Buch allerdings mit dem impliziten Anspruch antritt, Historie nachzuzeichnen, erwartet man Exaktheit und Einordnung – und wird es bedauerlich finden, dass der bedeutendste Bergsteiger unserer Tage teilweise etwas oberflächlich arbeitet. Das wird vor allem bei den abschließenden „Daten und Fakten“ deutlich. Da taucht ein „Fritz Riegele“ auf (der Nazi Fritz Rigele setzte die ersten Eishaken), da wird bei Catherine Destivelle neben weiterem fast Wörtlichem aus der deutschsprachigen Wikipedia die fehlerhafte Aussage übernommen, dass sie die Shishapangma-Südwand nicht komplett durchstiegen habe (sie erreichte den Gipfel). Messner wirft am El Capitan Freiklettern (Caldwell: Dawn Wall) und Free Solo (Honnold: Freerider) in einem Absatz etwas missverständlich zusammen. Er sagt zur Frage, ob Mallory und Irvine auf dem Everest waren, ein klares Nein, beschränkt sich aber beim genau so überzeugend widerlegten Cerro-Torre-Erfolg von Maestri und Egger auf ein „die Hintergründe sind inzwischen aufgekärt“ ohne inhaltliche Substanz.
Generell vermisst man Schwierigkeitsangaben, die den technischen Fortschritt dokumentieren könnten. Oder Namen von Routen und Wänden, die aus einer bloßen Gipfelbesteigung eine markante Erstbegehung machen: Aiguille du Fou (Südwand), Grand Pilier d’Angle (Nordwand), Foraker (Infinite Spur). Die Epoche von 1990-2019 handelt er mit elf Zeilen ab, von denen drei Zeilen dem Bashing von Sportklettern und Expeditionsreisen gewidmet sind. Namen wie Andrej Stremfelj, Marko Prezelj oder Ueli Steck sucht man vergeblich, Steve House kommt nur mit dem Howse Peak vor, seine Rupalflanke in Seilschaft wird nirgends erwähnt. Statt dessen wird im Kapitel „Die Zukunft des traditionellen Alpinismus“ ausgerechnet Nirmal Purjas Besteigung aller 14 Achttausender innerhalb von sieben Monaten ausgebreitet. Eine tatsächlich bedeutsame Leistung, ergänzt durch die erste Winterbesteigung des K2, und ein wichtiges Signal, dass die Einheimischen endlich emanzipiert unterwegs sind: Leader und Bergsteiger statt Träger und Helfer – aber Purja nutzte intensiv Technologie und klassische Expeditionstaktiken.
Wer sich also einigermaßen auskennt in der Geschichte dieses leidenschaftlichen Sports, mag an mancher Stelle stutzen. Dennoch freut es den Rezensenten, der selbst Wurzeln und Ziele im dieser Spielform hat, Sätze zu lesen wie „Traditioneller Alpinismus ist Wagnis, Risikomanagement und gelingendes Leben“. Eine Kunst – Vojtek Kurtyka nannte sie „die Kunst des Leidens“ –, die in die Versenkung verdrängt zu werden droht, kann prominente Unterstützung brauchen; Menschen, die sportlich kompetent und offen sind für große Aufgaben, schätzen Inspiration. Das ist Messners Anliegen, und man darf ihm unterm Strich dankbar sein dafür.
Kurzcheck
Info
Besonders geeignet für … Menschen, die sich schon immer gefragt haben, was um Himmels willen die Leute treibt, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um es intensiver zu fühlen.
Reinhold Messner: Zwischen Durchkommen und Umkommen, Ludwig Verlag, 2021, 304 S., 32 Euro