Mario Casella: Die Last der Schatten
Reisebericht/Lesebuch
07.01.2020, 16:43 Uhr
Darf man Alpinisten glauben? Soll oder muss man es tun? Was, wenn ihre Angaben sich als unwahr herausstellen? Aber was, wenn sie als Lügner gelten, aber die Wahrheit gesagt haben? Ein Buch aus der Schattenwelt der Bergesherrlichkeit.
„Die Geschichte des Bergsteigens ist und muss in jeder Hinsicht „rein“ bleiben, vor allem insofern, jedem einen guten Willen zu unterstellen; sonst wird die Gefahr, dass jedes Unternehmen in den Dreck gezogen wird, unvermeidbar.“ Diese Sätze stammen ausgerechnet von Cesare Maestri, der heute von der Mehrheit der Experten als Lügner eingeschätzt wird. Was aber, wenn er damals, 1959, tatsächlich zusammen mit Toni Egger den Cerro Torre erstbestiegen hätte? „Es bleiben die Schatten, die … immer länger werden – wie eine Gefängnisstraße ohne Urteil, gegen das man Revision einlegen könnte.“ Das schreibt der italienische Journalist und Extrembergsteiger Mario Casella über einen anderen Fall, über Tomo Cesens Solo-Erstdurchsteigung der Lhotse-Südwand 1991, die mittlerweile auch von weiten Kreisen angezweifelt wird. Eine ähnlich faszinierende Großtat war Ueli Stecks Alleingang in der Südwand der Annapurna 2013, an dem ebenso Zweifel geäußert wurden.
Je inspirierender die Leistung, desto schmerzlicher der Verdacht, sie könne nur „Fake News“ sein. Der Luftballon der Bewunderung platzt, wenn Christian Stangl zugibt, er habe seine K2-Besteigung nur „visionalisiert“. Seit jenem Fall sind die Ansprüche an Dokumentation bergsteigerischer Spitzenleistungen gestiegen – Kamera und GPS-Plot machen’s möglich. Und dennnoch ist der Glaube an die Aussagen von Bergsteigern eine Basis der alpinistischen Gemeinschaft, vergleichbar der Verlässlichkeit des Seilpartners. Lügen rauben der Alpingeschichte ihr Fundament. Trotzdem gab es sie immer wieder. Manche sind belegt, um andere Fragen wird immer der Zweifel kreisen, der mit dem Tod der Akteure (wie im Fall von Ueli Steck) unsterblich wird. Es hat etwas von inquisitorischer Logik: Nur durch das Geständnis der Lüge könnte sich der Beschuldigte freisprechen – was aber, wenn er wirklich oben war?
Was macht die Lüge aus dir?
„Ziel dieses Buches ist es nicht, die Wahrheit zu einigen der umstrittensten Kapitel in der Geschichte des Alpinismus herauszufinden, sondern von den Konsequenzen zu reden, die eine mutmaßliche Lüge für das Leben dessen hat, der sie erzählt hat oder über den sie verbreitet wurde“, schreibt Casella im Vorwort. Und im Nachwort konstatiert er, er publiziere das Buch „ohne den Anspruch, ein erschöpfendes Werk über das heikle Thema der Lüge in den Bergen geschrieben zu haben.“
Sachkundig und gründlich recherchiert präsentiert der Autor ein gutes Dutzend Beispiele aus der Alpingeschichte, wo Zweifel sich um behauptete Leistungen ranken oder Behauptungen als Lüge enttarnt wurden. Zweifel um die Erstbesteigung des Finsteraarhorns, die Lüge von Frederick Cook über die Erstbesteigung des Denali, ein Betrugsskandal in einer amerikanischen Pakistan-Hilfsorganisation; Geschichten von Mont Blanc und Nanga Parbat, Ausflüge ins Reich des Doping oder zum Thema Frauenbergsteigen. Teilweise aus der Literatur recherchiert, weil die Protagonisten tot sind oder sich nicht äußern wollen, teils aus erster Hand – wie von Walter Bonatti, der von seinen Expeditionskameraden angeschwärzt wurde und bitter feststellt: „In dieser Nacht, 1954 am K2, bin ich fast gestorben, aber das, was mich wirklich umgebracht hat, sind die 50 Jahre andauernder Lüge.“
Die Wahrheit aufzudecken, ist nicht die Intention des Autors; voyeuristischer Schadenfreude liefert er keinen Treibstoff. Ihm geht es um die Mechanismen von Fake und Wahrheit und was Lügen, aber auch Lügen-Vorwürfe mit Menschen machen. Nur der Akteur weiß, wie es wirklich war – wie Alessandro Gogna zu den Zweifeln an einer Solo-Erstbegehung formuliert: „Wenn Casara gelogen hat, ist das schlimm, aber noch schlimmer wäre es, wenn er es tatsächlich geschafft hätte und ihm das niemand geglaubt hat.“
Kurzcheck
Info
Besonders geeignet für … Interessierte an Abgründen aller Art.
Mario Casella: Die Last der Schatten – Wenn Alpinisten nicht die ganze Wahrheit sagen, AS Verlag, 2018, 192 S., 22,50 Euro