Peter Matthiessen: Der Schneeleopard
Reisebericht/Lesebuch
11.01.2022, 17:44 Uhr
Große Literatur über die Natur und den Menschen im hintersten Winkel Nepals. Rezensiert von Axel Klemmer.
Da wandert ein Schriftsteller, der um seine an Krebs gestorbene Frau trauert, im Herbst des Jahres 1973 zusammen mit einem anderen, der Zoologe ist und Blauschafe bei der Brunft beobachten möchte, durch Regen und Kälte und über hohe, schneebedeckte Pässe von Pokhara nach Dolpo, eine der abgelegensten Regionen Nepals. Dabei denkt er an seinen achtjährigen Sohn, dem er versprochen hat, an Thanksgiving wieder zu Hause auf Long Island im US-Bundesstaat New York zu sein – was sich schon bald nach dem Start der Wanderung als illusorisch erweist. Zwei Monate ist er unterwegs.
Der Schriftsteller heißt Peter Matthiessen (1927–2014), sein Buch über diese Reise, „Der Schneeleopard“, wurde 1978 veröffentlicht und in den beiden Folgejahren jeweils mit einem National Book Award ausgezeichnet, neben dem Pulitzer-Preis der wichtigste Literaturpreis der USA. Die deutsche Neuausgabe erschien nun als Band 72 der wunderbaren Reihe „Naturkunden“ des Berliner Verlags Matthes & Seitz, der ersten Adresse für anspruchsvolles „Nature Writing“ im deutschen Sprachraum. Es handelt sich dabei um eine Form der subjektiven Wissenschaft, die Empirie und Ästhetik zu schöner Literatur verbindet und in Deutschland mit Humboldt und Goethe gewissermaßen die Originale hervorbrachte. Das mag der eine Grund für die aktuelle Popularität dieses Genres sein. Der andere Grund: Worte können eine intakte, reiche Natur imaginieren, die im wohlhabenden Deutschland real immer weiter verarmt.
Peter Matthiessen ist hierzulande als „Reiseschriftsteller“ weit weniger bekannt als etwa der Engländer Bruce Chatwin, dessen Bücher über Patagonien oder Australien längst Kultstatus besitzen. Der Vergleich ist interessant. Chatwin liefert brillante Beobachtungen von Menschen und ihren Lebenssituationen, er lässt seine Leserinnen und Leser dabei stets wissen, was er über Kunst und Kultur im Allgemeinen weiß (eine Menge), gibt sich selbst aber auffällig zugeknöpft. Ganz anders der Amerikaner Matthiessen. Die Reise im Jahr 1973, die er im „Schneeleopard“ beschreibt, führte ihn und den Zoologen George Schaller durch die Schluchten des Himalaya, vorbei an Annapurna und Dhaulagiri, nach Norden, bis sich vor ihnen die wüstenhafte Weite Tibets öffnete. Zweieinhalb Wochen verbrachten sie zusammen im „Kristallkloster“ Shey. Damit gehörten sie zu den sehr wenigen Menschen, die diese Region vor dem Trekkingboom besuchen durften. Heute bieten viele Agenturen Gruppentouren nach Dolpo an. Sie versprechen ihren Kunden Einsamkeit und Ursprünglichkeit, und die Kunden wissen schon vorher, dass sie den malerischen Phoksundo-See sehen und fotografieren werden und ebenso die pittoresken Klöster – und dass sie nach Ablauf der gebuchten drei Wochen wieder im Flugzeug nach Hause sitzen.
„Immer noch dasselbe Ich“
Matthiessen wusste das alles nicht. Er hatte zwar Vorstellungen davon, was er sehen und, als praktizierender Buddhist, über sich erfahren wollte, und er behielt den Rat im Ohr, den ihm sein japanischer Zen-Meister vor der Abreise gegeben hatte: „Erwarte nichts!“ Doch natürlich nahm er Erwartungen und Ziele mit nach Nepal. Vieles verpasste er. Auch den Schneeleoparden, der seinem Buch später den Namen gab, sah er nicht. Die absolute Gegenwart, die er in der Gebirgseinöde erlangen wollte und die im Ende des Denkens besteht, in der Auflösung des Ich, letztendlich in der vollkommenen Leere – sie blieb ihm verwehrt. Matthiessen fällt ein hartes Urteil über sich selbst: „Es hat sich (…) nichts geändert, ich bin immer noch dasselbe Ich, besessen von den alten Gelüsten und Leidenschaften, der ewige Nörgler über unbedeutende Kleinigkeiten: Immer noch klafft eine Lücke zwischen dem, was ich weiß, und dem, was ich bin.“
Für alle Leserinnen und Leser ist das ein großes Glück, denn hätte Matthiessen seine Ziele erreicht, wäre das Buch wahrscheinlich nie geschrieben worden. Dann könnte heute niemand seine Schilderungen des Weges und der alltäglichen Routine lesen, die Beschreibungen von Landschaften, Tieren und Naturphänomenen, die Gedanken über das Wesen der Dinge und den gemeinsamen Urgrund des Lebens, über Buddhismus und Relativitätstheorie, Quantenphysik und die Evolution. Das alles ist eine Menge Stoff, der sich in den intensivsten Momenten zu einem rauschhaften Erzählfluss verdichtet und Sprachbilder von atemberaubender Schönheit transportiert, frei von Kitsch und, echt wahr, ohne jede Esoterik. Am Ende ist der Erzähler nicht erleuchtet, er fühlt sich bloß unendlich dreckig – und schämt sich dafür.
Kurzcheck
Info
Besonders geeignet für … Menschen, die hinter den Bergen nach mehr suchen – und erkennen, wenn sie es dort nicht finden.
Peter Matthiessen: Der Schneeleopard, Matthes & Seitz, 2021, 330 S., 38 Euro