Paolo Cognetti: Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen
Reisebericht/Lesebuch
11.01.2022, 16:38 Uhr
Ein Romanautor und Bergsteiger auf den Spuren einer Legende im tibetischen Grenzland – ein kleines feines Stück Reiseliteratur.
Zu seinem 40. Geburtstag möchte sich der italienische Autor Paolo Cognetti einen Wunsch erfüllen: einen Monat lang durch die Berge des Himalaya trekken, im Dolpo, einem aus der Zeit gefallenen Grenzgebiet zwischen Nepal und Tibet. Mit in seinem Rucksack ist „Der Schneeleopard“, ein berühmtes Stück Reiseliteratur, geschrieben von Peter Matthiessen zur Zeit von Cognettis Geburt über seine eigene Reise im Dolpo.
Zwei verwandte Seelen sind da unterwegs – sensible Geschöpfe mit wachen Augen und Seelen auf der Suche nach Resonanz. Wo Matthiessen geschrieben hatte: „Ich klinge vor Leben, und die Berge klingen, und wenn ich es zu hören vermag, dann ist da ein Klang, der uns gemeinsam ist“, klingt es bei Cognetti: „Ich pflückte eine harte, unreife Frucht und kaute darauf herum, doch sie war sehr sauer, und als ich sie ausspuckte, hatte ich das Bedürfnis, den Baum um Vergebung zu bitten.“
Mit zwei engen Freunden und einigen weiteren Begleitern wandert der Reisende über fünftausend Meter hohe Pässe zurück in der Zeit. Zu Menschen, die in Einklang mit der Natur leben, weil anders kein Leben möglich ist. Cognetti schildert die Begegnungen ohne romantisches Pathos, mit zartem Strich – so wie auf den Zeichnungen, die er unterwegs gemacht hat. Und er nimmt auch wahr, wie er in seiner Rolle als Tourist zur Bedrohung für sein Shangri-La werden könnte. Davon erzählt sein Freund Remigio, der in einem italienischen Alpendorf aufwuchs, das bis zu den Siebzigerjahren nur zu Fuß erreichbar gewesen war. „Dann war die Straße gebaut worden, und er hatte mit ansehen müssen, wie es sich im Lauf seines Lebens völlig entvölkerte.“ Remigios Aussage ließe sich aufs Dolpo übertragen: „Wenn die Straße kommt, glaubt man jedes Mal, dass sie etwas bringen wird – nur um dann festzustellen, dass sie einem ausschließlich etwas nimmt.“
Eine Reise auch in Gedanken
Aufmerksam nimmt Cognetti die Landschaft wie die Menschen wahr, schildert seine Beobachtungen in bildhafter, eingängiger Sprache – und lässt immer wieder die Gedanken schweifen. So sinniert er über die wichtigste tibetische Pilgerreise um den heiligen Berg Kailash: „Während die Christen Gipfelkreuze errichten, ziehen die Buddhisten Kreise um den Fuß der Berge. Ersteres empfand ich als brutal, Letzteres als rücksichtsvoll: Eroberungsdrang versus Erkenntnisdrang.“
Und mit jedem Schritt, den sich die Reisegruppe in die archaische Welt hineinbegibt, übernimmt sie deren Rhythmus: „Mehr noch als darüber, dass man mit so wenig auskommen kann, staunte ich, dass ich gar kein Verlangen nach mehr hatte. Erst, wenn wir irgendwo Halt machten, kehrten die Bedürfnisse, Sehnsüchte und Ziele zurück – Löcher, die man stopfen möchte.“
Immer wieder vergleicht der Autor seine Erlebnisse mit denen von Peter, dem Autor seiner Reiselektüre „Der Schneeleopard“, dem er sich zunehmend eng verbunden fühlt. Ganz ohne belehrende Botschaft skizziert er eine Welt, die sich in den vierzig Jahren seit Erscheinung des Buchs kaum verändert hat, weitgehend unbeeinflusst von unserer Getriebenheit – die mit der Rückkehr ins Reich der Handynetze wieder Besitz von den Reisenden ergreift: „Wir brauchten nur noch einen weiteren Kamm zu überwinden, und sofort tutete es wie verrückt aus den Rucksäcken meiner Reisegefährten. Wir sahen uns an, während wir Nachrichten erhielten, die sich in einem Monat Funkstille angesammelt hatten: SMS, Mails, Sprachnachrichten, entgangene Anrufe. Willkommen zurück in der Wüste des wirklichen Lebens! Wir waren zurück im Netz, in der Welt, in der Zeit, und ich spürte, dass diese aus der Zeit gefallene Welt, der Tee des Mönchs in der Einsiedelei oberhalb des Abgrunds, der vergilbte, zerknitterte „Schneeleopard“ in meinem Rucksack, bereits an Bedeutung verlor.“
Kurzcheck
Info
Besonders geeignet für … Menschen mit offenen Herzen und Sinnen.
Paolo Cognetti: Gehen, ohne je den Gipfel zu besteigen, Penguin Verlag, 2021, 128 S., 15 Euro