Roland Stierle
Ehemaliger Vorsitzender Sektion Stuttgart
„Machet bloß nix Heroisches draus“, mahnt Roland Stierle beim Abschied nach dem Gespräch für das geplante Kurz-Porträt. Das hätte leicht passieren können, denn seine alpine Vita ist beeindruckend und weist in den 1970er und 1980er Jahren sehr viele Touren aus Walter Pauses Kultbuch „Im extremen Fels“ auf, darunter viele Dolomitenrouten im oberen V. und VI. Grad. Routen durch riesige Wände, die einst berüchtigt waren wegen ihrer sparsamen Absicherung und den furchterregend großen Hakenabständen: die „Cassin“ am Torre Trieste in der Civetta-Gruppe, die „Philipp-Flamm“ in der Civetta-Nordwestwand, die „Lacedelli“ in der Scotoni-Südwestwand, die „Schweizer Führe“ an der Westlichen Zinne oder die „Vinatzer“ an der Marmolada. Auch die großen Routen im Montblanc-Massiv, wie „Bonatti-Pfeiler“ am Petit Dru oder „Droites-Nordpfeiler“ gehören dazu.
„Das Klettern und Bergsteigen hat mich früher völlig euphorisiert“, erzählt Stierle. „Und Reinhold Messners Buch ‚Der 7. Grad‘ war meine ‚Bibel‘.“ 1970 begann er als Mitglied der Jungmannschaft der Sektion Stuttgart mit dem Klettern an den Felsen der Schwäbischen Alb und muss sehr talentiert, sehr ehrgeizig, extrem ausdauernd und verwegen gewesen sein, da ihm 1971 bereits mit seinem Gefährten die Comici-Führe an der Großen Zinne gelang. Eine große Tour folgte der anderen. Seine Energie, Ausdauer und Beharrlichkeit als Bergsteiger kam ihm auch bei seinem ehrenamtlichen Engagement für den Deutschen Alpenverein zugute, zunächst nur für die Sektion Stuttgart, dann auch auf Landes- und Bundesebene. Seine Frau Helga, ebenfalls begeisterte Kletterin in der Stuttgarter Jungmannschaft, war 1981 die erste Frau im Vorstand der Sektion Stuttgart und diesbezüglich schneller als er. 1994 wurde er nach mehreren Zwischenstationen zum Ersten Vorsitzenden gewählt, was er bis heute ohne Unterbrechung geblieben ist.
Seit damals hat sich die Mitgliederzahl von 8800 auf über 20.000 mehr als verdoppelt. Roland Stierle war wichtig, den Mitgliedern ein umfangreiches Ausbildungsprogramm zu bieten, um das selbstständige Bergsteigen zu fördern. Inzwischen hat die Sektion Stuttgart 150 ausgebildete Fachübungsleiter und 30 bis 40 Jugendleiter sowie der Landesverband einen „Felskader“,den Stierle als Vorstufe des DAV-Expeditionskaders vorstellt. Auch das komplett abgebrannte und wieder aufgebaute Mahdtalhaus, der Bau des Kletterzentrums auf der Waldau, umfangreiche Sanierungen auf den drei Hütten der Sektion in den Lechtaler Alpen und 2004 das 100-jährige Sektionsjubiläum fallen in seine Amtszeit. Von 1990 bis 2000 war Stierle außerdem Zweiter Vorsitzender des Landesverbandes Baden-Württemberg, seit 2006 ist er dessen Erster Vorsitzender.
Auf Bundesebene war er von 1993 bis 2003 Mitglied im früheren Hauptausschuss des DAV und leitete den damaligen Bundesausschuss Klettern und Naturschutz. Von 1998 bis 2002 und von 2010 bis 2013 arbeitete er in einer Projektgruppe an der Überarbeitung des Leitbildes und dem Strukturkonzept 2020 mit, von 2003 bis 2005 war er Vorsitzender des damaligen Bundesausschusses für Kommunikation und Medien. Vor Ort in der Sektion gibt er zusammen mit dem Geschäftsführer Frank Böcker das Magazin „Stuttgart alpin“ heraus, für das er oft selbst Artikel schreibt über kontrovers diskutierte alpin- und vereinsrelevante Themen, die ihm am Herzen liegen. Etwa zu Sportklettersteigen und dem zunehmenden Anspruchsdenken auf den Berghütten, verbunden mit einem klaren Bekenntnis zur Bewahrung der Bergsteigerunterkünfte, zu günstigem Teewasser und der Selbstversorgungsmöglichkeit. Auch beim Thema Ehrenamt kommt er rasch aufs Wesentliche: „Schon die Jugendlichen haben durch die G8-Reform an den Gymnasien in Bayern und Baden-Württemberg heute zu viel Druck für ein Ehrenamt. So fehlen irgendwann die geschulten Jugendleiter, aus denen sich die Sektionen ihre ehrenamtlichen Nachfolger rekrutieren. Hinzu kommt, dass inzwischen auch Tourenführer eine Aufwandsentschädigung erwarten. Es wird sich einiges ändern bezüglich des Ehrenamts, auf solche Dinge kann sich eine Sektion aber einstellen.“
Roland Stierle vertritt seine Ansichten klar und offen, sucht bei Kontroversen nach dem Konsens und steht auch hinter einer demokratisch getroffenen Entscheidung, die nicht seiner Überzeugung entspricht. 2012 wurde er im Stuttgarter Rathaus als „Sportpionier“ geehrt – die höchste Ehrung der Landeshauptstadt im Sportbereich. Stierle, der eine Familie mit drei inzwischen erwachsenen Töchtern, alle gute Kletterinnen, samt einer Enkelin hat und bis vor Kurzem auch noch einen sehr anspruchsvollen Beruf ausübte, nämlich bei Siemens Solar und Infineon im Europageschäft, hat ab jetzt wieder mehr Zeit fürs Klettern und für Skitouren mit seiner sportlichen Familie. Aber wer weiß, was demnächst noch an Ehrenämtern auf ihn zukommt?